Etienne und Nikolaus
Etienne von Cloyes, hierzulande Stefan genannt, startete seine Mission an der Loire. Er war wohl etwas älter als der zehnjährige Nikolaus, der von Köln aus aufbrach. Beide, der Franzose und der Deutsche, sammelten, wie der sagenhafte Rattenfänger von Hameln, tausende Kinder hinter sich. Die Mission der beiden jungen Anführer: Sie wollten Jerusalem für die Christenheit zurückgewinnen. Also das schaffen, was die Erwachsenen in ihren bisherigen Kreuzzügen nicht hingekriegt haben.
Man schrieb das Jahr 1212. Die bisherigen Eroberungszüge waren im Großen und Ganzen blutige Desaster. Jerusalem hatte zwar für eine Weile einen christlichen König namens Balduin. Doch Saladin bereitete dem Traum der Kreuzritter, dort auf Dauer zu herrschen, ein Ende. Beim vierten Kreuzzug kämpften Christen gegen Christen. Die Ritter des Papstes fielen nicht in Jerusalem ein, sondern in Konstantinopel, also bei der orthodoxen Konkurrenz. Stefan und Nikolaus zogen ohne päpstlichen Aufruf gen Jerusalem. Ihre Wanderschaft mit Trommeln und Kreuzen ging als Kinderkreuzzug in die Geschichte ein. Allerdings stellt sich die Frage, ob die versuchte Reise nach Jerusalem mehr in der Fantasie der Nachwelt stattfand als in der Wirklichkeit. Die historischen Quellen zum Kinderkreuzzug sprudeln nicht gerade. Diejenigen, die dabei waren, haben nichts hinterlassen. Ein, zwei zeitgenössische Chroniken und sehr phantasievolle Berichte einiger Mönche erwähnen den Aufbruch der Kinder. Wirklich der Kinder? In der damals üblichen lateinischen Sprache ist von „pueri“die Rede. Das bedeutet in der Tat Kinder, beschrieb aber auch Arme und schlichte, unschuldige Gemüter.
Ein ziemlich gemischter Haufen also. Aber ein beseelter. Stefan wollte seinen Auftrag direkt von Gott erhalten haben. Nikolaus versprach, das Mittelmeer werde sich teilen und ihnen den Weg nach Jerusalem öffnen. Das Meer teilte sich nicht, was der Reise in Genua ein Ende setzte. Anhänger von Stefan, die es ab Marseille per Schiff versuchten, sollen von Seeräubern gefangen und als Sklaven an Moslems verkauft worden sein. Was ist Wahrheit und was Fiktion? Die Geschichte vom Kinderkreuzzug lebt bis heute in Romanen, Gedichten und Filmen fort. Die Idee, dass Kinder aufbrechen, um den Erwachsenen ein Ideal vorzuleben, ist zeitlos.