Vielleicht kommt jetzt Marlene dran
Napoleon Bonaparte II Ein Ulmer Historiker räumt mit mancher Legende um den französischen Kaiser auf
Über 500000 Bücher sind schon über Napoleon Bonaparte geschrieben worden, wie der Historiker Thomas Schuler aus Ulm herausfand. Er selbst hat dazu 2010 und 2015 auch zwei Beiträge geleistet. Zum 250. Geburtstag des französischen Kaisers in diesem Jahr wollte Schuler der halben Million Publikationen in keinem Fall eine reine Lebensbeschreibung hinzufügen. Er wählte einen originelleren Ansatz: Für sein neues Buch „Auf Napoleons Spuren“fahndete der 49-Jährige an Originalschauplätzen nach Aura und Authentizität – er nimmt uns mit auf eine sehr spezielle „Route Napoleon“.
Wo immer der Autor war, in Waterloo, an der Beresina in Russland oder auf dem St. Bernhard, drehte er schier jeden Stein um. Das Experiment, das Gewesene mit der Gegenwart zu konfrontieren, verströmt auf 408 Seiten beeindruckenden Charme. Zumal da zugleich etliche Legenden dran glauben müssen.
So räumt Schuler gleich zu Beginn mit der Mär auf, der „Weltgeist zu Pferde“(der Philosoph Hegel) habe mit seinem Schimmel „Marengo“den St. Bernhard überquert (siehe Bild oben). Tatsächlich spielte sich der Vorgang eine Nummer kleiner und abgründiger ab: Er ritt auf einem trittsicheren Maultier übers Gebirge und wäre dabei beinahe in eine steile Schlucht gestürzt. Ein Schweizer Bergführer konnte den Esel mit der Epochengestalt im Sattel gerade noch zurück auf den schmalen Bergpfad schieben.
Akribische Feldforschung auch in Regensburg: Hier zog der Geschichtswissenschaftler sogar Quellen der Bayerischen Vermessungsverwaltung zu Rate, um den exakten Ort zu ermitteln, an dem Napoleon I. 1809 bei einer seiner zahllosen Bataillen durch einen Schuss ins Bein verwundet wurde. Ergebnis: Das Spektakulum spielte sich just da ab, wo heute an der Maximilianstraße ein Telefonhäuschen steht. Aha.
In Paris protokollierte Schuler sehr aktuell die Verwüstungen, die jüngst die „Gelbwesten“am Triumphbogen mit seinen SchlachtenTableaus angerichtet haben. Keine Sorge: Die darauf verewigten Namen Elchingen, „Guntzbourg“und Wertingen blieben lesbar.
Am Pariser Platz in Berlin ermöglichte eine Beschäftigte des „AdlonHotels“vom sechsten Stock aus einen Blick auf die „Quadriga“des Brandenburger Tors. Willkommener Anlass, die überaus wechselvolle Geschichte dieses nationalen Symbols im 18., 19. und 20. Jahrhundert aufzurollen. Am Ende stand die traurige Erkenntnis, dass ein Pferdekopf als einziges noch originales Teil der „Quadriga“die Zeitläufte überlebt hat.
Gut versteckt zwischen solchen netten Nichtigkeiten kommt die ernsthaftere Geschichtsschreibung keinesfalls zu kurz. So bringt Schuler beispielsweise die KriegsschuldFrage für die Zeit von 1792 bis 1815 ins Spiel. Die Welt hat sich angewöhnt, das mörderische Geschehen jener Jahre in seiner Gesamtheit Napoleon anzulasten. Demgegenüber plädiert der Ulmer Historiker dafür, die Sache „Englische Kriege“zu nennen. Ohnehin seien die meisten der so genannten Koalitionskriege von den Briten diplomatisch angezettelt und finanziert worden. Bonaparte habe nur 1808 gegen Spanien und 1812 in Russland Angriffskriege geführt.
Schuler beklagt, dass der Korse in der kollektiven Wahrnehmung als größenwahnsinniger Kriegstreiber gelte. In Wirklichkeit sei ihm am Frieden gelegen gewesen; er habe ihn für seine Reformen in Frankreich gebraucht. Der Publizist bestreitet aus gegebenem Anlass, ein bedingungsloser Bewunderer des Möchtegern-Universalherrschers zu sein.
Davon abgesehen nährt das Thema seinen Mann: Von und mit dem Geschäftsmodell Napoleon samt globalhistorischer Krümelsuche lässt sich leben. Schulers Bauchladen einschlägiger Aktivitäten umfasst außer dem Bücherschreiben regelmäßige Führungen in mehreren schwäbischen Städten: Augsburg (nächste Termine: 21. und 28. September, Treffpunkt jeweils um 10, 14 und 18.30 Uhr am Wertachbrucker Tor), Donauwörth, Elchingen, Günzburg, Nördlingen, Memmingen und Ulm. Hinzu kommen Vorträge, Reiseleitungen, beratende Tätigkeiten für Fernsehen und Radio. Zudem betreut er das Archiv einer Stiftung.
Thematisch ist der freiberufliche Historiker bis zur Stunde noch nicht fremdgegangen. Doch das könnte sich ändern: So empfände er es als reizvoll, eine Biografie Marlene Dietrichs zu schreiben, betont Schuler im Gespräch. Nach dem großen Mann wäre also eine große Frau dran. Willi Naumann