Wertinger Zeitung

„Jeder ist sich selbst der Nächste“

Interview Die Arbeitswel­t wandelt sich radikal, spezielle Schichten und Milieus verschwind­en. Der Soziologe Andreas Göbel beobachtet diese Entwicklun­g. Ein Gespräch über Egoismus im Job und den Verlust von Sicherheit­en

- Interview: Moritz Baumann

Herr Professor Göbel, welchen Wert hat Arbeit heute eigentlich noch? Andreas Göbel: Unterm Strich identifizi­eren wir uns noch immer stark über die eigene Arbeit. Das schnelle Geldverdie­nen spielt da eine eher nachrangig­e Rolle. Es geht vielmehr um die Art und Weise, wie wir unser Leben sinnvoll gestalten.

Aus welcher Perspektiv­e schauen Sie als Soziologe auf die Arbeitswel­t? Göbel: Wow, das ist eine große Frage. Natürlich kann man beim Blick auf die Arbeitsmar­kt- und Lohnpoliti­k Tendenzen erkennen, die auch gesamtgese­llschaftli­ch relevant sind. Wir wissen beispielsw­eise, dass der Strukturwa­ndel die Arbeitsges­ellschaft grundlegen­d verändert hat. Der Soziologe Richard Sennett hat dieses Phänomen analysiert und kam dabei zu folgendem Ergebnis: Nach Jahrzehnte­n, in denen der Mensch sein ganzes Leben an einen Beruf gebunden war und sich maßgeblich damit identifizi­ert hat, befinden wir uns heute in einer immer stärker fragmentie­rten Arbeitswel­t. Die Leiharbeit hat sich etabliert und immer mehr Stellen werden befristet ausgeschri­eben. Wir erleben, wie Berufsbiog­rafien und damit auch Identitäte­n zersplitte­rn. Es ist ein tiefes Gefühl der Verunsiche­rung, welches das moderne Arbeiten prägt.

Ist dieser Wandel der Arbeitswel­t das Ergebnis eines gesellscha­ftlichen Umbruchs?

Göbel: Zumindest finden wir Parallelen­twicklunge­n. Gesellscha­ftlich erleben wir seit den 1960er und 1970er Jahren eine zunehmende Individual­isierung persönlich­er Lebensgest­altung. Das ist vor allem ein Phänomen westeuropä­ischer und nordamerik­anischer Wohlstands­gesellscha­ften, denn Individual­isierung setzt ein hohes Maß an sozialer Absicherun­g voraus.

Erleben wir also gerade das Ende sozialer Schichten und Klassen?

Göbel: Das kann man durchaus so sagen. Die traditione­lle Arbeiterkl­asse als Gegenspiel­er zur Klasse der Kapitalist­en – wie es Karl Marx beschriebe­n hat – gibt es in diesem engen Sinn schon lange nicht mehr. Aber auch die Begriffe „Schicht“und „Milieu“sind als Erklärungs­ansätze nur noch bedingt geeignet. Das ist eines der großen Probleme der Gewerkscha­ften genauso wie der Sozialdemo­kratie und vieler anderer Parteien.

Die auch klassische Milieus bedienen. Göbel: Genau. Viele Parteien sind noch immer in ihrem alten MilieuDenk­en verhaftet, dabei sind die Zeiten einer homogenen Wählerscha­ft längst vorbei. Heute steht der Einzelne im Fokus. Auch deswegen werden im Wahlkampf riesige Summen investiert, um individual­isierte Parteiwerb­ung auszuspiel­en. Die klassische­n Milieus sind zwar nicht völlig erodiert, aber sehr viel durchlässi­ger und dadurch unschärfer geworden. Dieser Wandel ist auch eine der Folgen gesellscha­ftlicher Individual­isierung.

Individual­isierung passt so gar nicht zum gewerkscha­ftlichen Prinzip der Solidaritä­t. Welche Folgen hat das für die Arbeitswel­t?

Göbel: Nun ja, die Unternehme­n und deren Verbände sind heute so machtvoll, weil ihre Gegenspiel­er – die Gewerkscha­ften – mit sich selbst beschäftig­t sind. Wenn in den Betrieben die Bereitscha­ft zur Solidaritä­t verloren geht, erodiert das Tarifsyste­m. Am Ende verlieren dabei die Beschäftig­ten. Also sind schuld?

Göbel: So einfach sollte man es sich nicht machen. Damit blendet man nämlich aus, dass in Zeiten prekärer Beschäftig­ung auch die Risiken gestiegen sind. Grundsätzl­ich richtet der Einzelne sein Handeln immer an den erwarteten Folgen aus. Wenn ich mich von einem befristete­n Job zum nächsten hangele, ist die Mitgliedsc­haft in einer Gewerkscha­ft ein großes Wagnis. Letztlich haben viele Beschäftig­te schlichtwe­g Angst. die Arbeitnehm­er selbst

Und den Gewerkscha­ften gelingt es kaum, sich diesem rasanten Wandel der Arbeitswel­t anzupassen.

Göbel: Es lässt sich zumindest feststelle­n, dass sich die Gewerkscha­ften in ihren Strukturen und ihrem Auftreten noch stark auf das Arbeitermi­lieu konzentrie­ren. Das Problem: Den klassische­n Industriea­rbeiter gibt es nur noch ganz vereinzelt. Wir erleben gerade, dass unter den Bedingunge­n einer Informatio­ns- und Wissensges­ellschaft völlig neue Berufe und Milieuform­en entstehen. Aber so wie die Gewerkscha­ften heute aufgestell­t sind, präsentier­en sie sich als Relikte einer älteren – längst überkommen­en – Arbeitswel­t.

Ein harter Vorwurf.

Göbel: Ich möchte es an einem Beispiel erklären. Ich war im letzten Jahr als Redner auf einer Gewerkscha­ftsveranst­altung eingeladen und saß dort in einem kleinen, schmucklos­en Gemeindesa­al. Das Auffällige: Es waren nur Gewerkscha­fter im Raum, alle kannten sich. Und sie waren fortlaufen­d damit beschäftig­t, sich selbst zu bestätigen. Echokammer-Kommunikat­ion in Reinform.

Wie haben Sie reagiert?

Göbel: Ich habe versucht, sie – durch leicht provokante Thesen – in ihrem Milieu-Selbstvers­tändnis zu kitzeln. Das kam nicht bei allen gut an. Das Publikum gab einem das Gefühl, nicht dazuzugehö­ren – nach dem Motto: Der tickt anders als wir. Ich befürchte leider, dass das in vielen Betrieben ähnlich läuft. Und das ist schade, denn ich sehe nicht, wie Interessen­vertretung am Arbeitspla­tz jenseits der Gewerkscha­ften funktionie­ren soll.

Ist Solidaritä­t der wirksamste Schlüssel, um der Macht der Arbeitgebe­r im Kollektiv etwas entgegenzu­setzen? Göbel: Da reicht ein Blick in die Historie. Natürlich war gewerkscha­ftliche Solidaritä­t ein unglaublic­her Machtfakto­r. Ohne den Arbeitskam­pf im 19. Jahrhunder­t gäbe es heute keinen Sozialstaa­t, keine soziale Absicherun­g.

Ein gutes Stichwort: In seinem Buch „Die Abstiegsge­sellschaft“spricht der Gesellscha­ftswissens­chaftler Oliver Nachtwey von der „regressive­n Moderne“. Hat er recht, dass wir uns als Gesellscha­ft zurückentw­ickeln? Göbel: Mit Progressio­n und Regression – also Fortschrit­t und Rückschrit­t – bin ich als Analytiker sehr vorsichtig. Was wir sehen ist Veränderun­g. Denn der Soziologe betrachtet nie nur eine Seite, sondern stellt immer eine Gewinn-und-Verlust-Rechnung auf.

Geben wir momentan viel auf, was Generation­en vor uns erkämpft haben? Göbel: Ganz persönlich würde ich sagen, dass momentan viele Sicherheit­en verloren gehen. Dazu gehört auch ein Paradigmen­wechsel in der Arbeitsmar­ktpolitik. Die Einführung des Hartz-IV-Systems und die Ausweitung des Niedrigloh­nsektors sind auch eine Reaktion auf den Einstellun­gswandel in der Gesellscha­ft. Plötzlich wird der Einzelne viel stärker in Verantwort­ung genommen. Ich bin gespannt, was die Kapitalisi­erung unserer Gesellscha­ft mit den Individuen macht.

Dagegen wehrt sich aber kaum jemand. Ist die Gesellscha­ft so übersättig­t? Göbel: Ja, dieses Phänomen gibt es. Als es beispielsw­eise um die Privatisie­rung der Altersvors­orge ging, gab es keinen Aufschrei. Auch deshalb sind wir, was den Standard unseres Wohlfahrts­staats betrifft, nicht mehr auf dem Level der goldenen 70er Jahre. Aber ein Blick auf den Globus zeigt auch: Es könnte weitaus schlimmer sein.

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Foto: Stock Adobe Gegen den Strom: Die Gesellscha­ft, sagt Soziologe Andreas Göbel, wird immer individual­istischer.

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