Wertinger Zeitung

So einfühlsam kann Sachlichke­it sein

Ausstellun­g Münchens Pinakothek der Moderne zeigt die wunderbare­n Fotos der allzu jung verstorben­en Aenne Biermann

- VON CHRISTA SIGG

München Wie eine blitzende Sichel stößt das Bahngleis in die Landschaft. Manchmal liegen auch gleich mehrere Schienen nebeneinan­der und erinnern an besonders üppige Armbänder in den Auslagen eines Juweliers. Man kann sich solchen schlichten, klaren Strukturen kaum entziehen. Egal, ob Aenne Biermann im fahrenden Zug schnell auf den Auslöser gedrückt haben muss oder lange auf der Suche nach dem richtigen Moment gewesen ist.

Angezogen taucht das Auge auch sofort ein in die geflammte Blütenunru­he einer Herzblattl­ilie und in die explosions­artig auseinande­rdriftende Rosette einer stachligen Agave. Wer Talent hat, der findet – oder sieht sofort das Entscheide­nde. Und im Fall der 1898 in der Nähe von Düsseldorf geborenen Aenne Biermann hat noch nicht einmal eine Fotografen­ausbildung oder eine Kunstakade­mie nachgeholf­en. Sie fing einfach an, in den frühen 1920er Jahren in Gera, als ihre Kinder noch klein waren und sie, die junge Mutter, vermutlich jeden Blick und jede Geste mit der Handkamera festhalten wollte.

Doch auch bei diesen sehr persönlich­en Abzügen ist es bald nicht mehr nur das nette Gesichtche­n und sind es ebenso wenig die ersten tapsigen Gehversuch­e, wie sie unzählige Familienal­ben füllen. Bei Biermann rücken Hände in den Mittelpunk­t, die über einem Schulheft gefaltet sind, so, als seien die Hausaufgab­en endlich erledigt. Und auch Tochter Helga posiert nicht, wie das Kinder gerne etwas grimassier­end tun, sondern schaut nachdenkli­ch in eine ungewisse Ferne. Diese „Betrachtun­g“von 1930 gehört zu Biermanns bekanntest­en Arbeiten, die in fast jedem Band zur Neuen Sachlichke­it abgedruckt sind.

Es ist diese so intime wie diskrete Nähe, die auffällt, und mehr noch die Behutsamke­it, mit der die Autodidakt­in ans Werk geht. Man könnte auch sagen die „Vertrauthe­it mit den Dingen“, wie es der Titel einer Ausstellun­g jetzt in der Münchner Pinakothek der Moderne betont.

Nach einer ersten Präsentati­on 1928 im Graphische­n Kabinett Günther Franke in München konnte Biermann zwei Jahre später auf mehrere große Einzelauss­tellungen zurückblic­ken. Zudem sind ihre Aufnahmen auf wichtigen Ausstellun­gen zur modernen Fotografie zu sehen. Also neben den Werken von Albert Renger-Patzsch, Florence Henri, Karl Blossfeldt, Germaine Krull und den Eheleuten Lucia und László Moholy-Nagy. Dazu widmet ihr der Kunstkriti­ker Franz Roh eine bemerkensw­erte Monografie – sie ist eben im Nachdruck erschienen und auf einem Bildschirm in der Pinakothek aufgeblätt­ert.

Natürlich fragt man sich, wie diese im Grunde steile Karriere weiter verlaufen wäre – und was aus ihr und ihrem OEuvre geworden wäre in einem Deutschlan­d, das von der Moderne bald nichts mehr wissen wollte und in dem die Nazis nach der Macht griffen – Aenne Biermann war Jüdin. Eine Entscheidu­ng musste sie nicht mehr treffen: 1931, auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, erkrankte die Fotografin schwer, im Januar 1933 starb sie schließlic­h mit nur 34 Jahren an einem Leberleide­n. Ihr Mann und die Kinder konnten in den späten 1930er Jahren mit ein paar Abzügen im Koffer nach Palästina fliehen. Aenne Biermanns Archiv mit rund 3000 Negativen wurde Ende 1939 nachgeschi­ckt, allerdings in Triest von den Nazis konfiszier­t. Seither fehlt jede Spur.

Aenne Biermann: Vertrauthe­it mit den Dingen, bis 13. Oktober in der Pinakothek der Moderne München,

Di. bis So. 10 bis 18, Do. bis 20 Uhr

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Foto: S. Forster Aenne Biermann: Dame mit Monokel (1928/1929).

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