Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (52)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale.
Der Student trat keck in die Zelle. Der Priester, dem ein solcher Besuch an solchem Orte unwillkommen, war, rief ihm mißmuthig entgegen: „Wie! Du bist es! Johann?“
„Es ist immerhin ein J,“erwiederte der Student mit seinem rothen, lustigen, unverschämten Gesichte.
Der Archidiakonus nahm eine ernste und strenge Miene an: „Was willst Du hier?“
„Mein Bruder,“erwiederte der Student, indem er sich vergebliche Mühe gab, sein Gesicht in anständige und bescheidene Falten zu legen, ich wollte Euch nur bitten...“„Um was?“
„Um ein wenig Moral, deren ich sehr benöthigt bin.“Der Mühlenhans wagte nicht hinzuzufügen: und um ein wenig Geld, das ich noch nothwendiger habe.
„Mein Freund,“sagte der Archidiakonus frostig, „ich bin sehr unzufrieden mit Dir.“
„Ei du mein Gott!“seufzte der Student.
Der Priester faßte ihn scharf ins Auge. „Es ist gut, daß Du selbst kommst.“
Dieser Eingang war nicht sehr erbaulich, und der Mühlenhans war einer scharfen Strafpredigt gewärtig.
„Johann, man bringt mir täglich Klagen über Dich vor. Was ist es denn mit der Bastonade, die ihr dem jungen Vicomte Albert de Ramonchamp gegeben habt?“
„Oh! Das ist nicht der Mühe werth: ein unverschämter Page, der absichtlich sein Pferd durch den Koth sprengte, um die Studenten zu bespritzen!“
„Was ist es weiter mit einem gewissen Mahiet Fargel, dessen Kleid ihr zerrissen habt?
Tunicam dechiraverunt, besagt die Klagschrift.“
„Bah! Es war nur ein schlechter Kittel! Was ist da für ein Lärm darum?“
„Die Klagschrift besagt Tunicam, und nicht cappettam. Verstehst Du Dein Lateinisch?“ Johannes antwortete nichts. „So,“fuhr der Priester mit Kopfschütteln fort, „so steht es jetzt um die Wissenschaft und das Studium? Die lateinische Sprache versteht man kaum, die hebräische gar nicht, die griechische ist so unbekannt, daß selbst die Gelehrtesten sich nicht schämen, ein griechisches Wort zu überhüpfen, und daß es fast sprüchwörtlich geworden ist: graecum est, non legitur.“Der Student erhob kühnlich seine Augen zu dem Priester: „Wenn es Euch gefällig ist, Herr Bruder, so will ich Euch das griechische Wort, das dort auf der Mauer steht, auf gut Französisch erklären.“
„Welches Wort?“
ANAI – KH
Eine leichte Röthe färbte die bleichen Wangen des Priesters, gleich dem emporsteigenden Rauche, der die innere Glut eines Vulkans nach Außen ankündigt. Der Student bemerkte sie kaum.
„Je nun,“stotterte der ältere Bruder mühsam, „so sage mir, was dieses Wort heißt.“„Verhängniß.“
Der Archidiakonus wurde wieder bleich, und der leichtsinnige Student fuhr fort: „Und das Wort, das von der nämlichen Hand darunter gegraben ist: Avayvc-ía, bedeutet Unkeuschheit. Ihr seht, daß man sein Griechisch versteht.“Der Archidiakonus erwiederte nichts. Diese griechische Lektion hatte ihn in seine alten Träumereien versenkt. Der schlaue Mühlenhans, der sich auf alle Ränke eines verzogenen Kindes verstand, hielt den Augenblick für günstig, seine Bitte anzubringen. Er nahm daher eine äußerst sanfte Stimme an und begann auf folgende Weise: „Mein lieber Bruder, Ihr werdet mir doch nicht böse sein wegen einer Tracht Schläge, welche etliche böse Buben in gerechter Fehde von mir erhalten haben?“Dieser schmeichelnde Eingang machte jedoch auf den ernsten Archidiakonus nicht den gehofften Eindruck. Cerberus biß nicht in den Honigkuchen. Die Stirne des Priesters entrunzelte sich nicht im geringsten.
„Wo willst Du damit hinaus?“fragte er trocken.
„Je nun, um auf die Hauptsache zu kommen: ich brauche Geld.“
Auf diese unverschämte Anforderung nahm das Gesicht des Archidiakonus einen pädagogischen und väterlichen Ausdruck an.
„Ihr wißt, Meister Johann, daß unser Lehen von Tirechappe, wenn man Alles zusammenfegt, nicht über 39 Livres, 11 Sous und 6 Pfennige erträgt. Das ist zwar um die Hälfte mehr, als zu den Zeiten der Gebrüder Paclet, aber es ist noch nicht viel.“
„Ich brauche Geld,“sagte der Student mit stoischem Gleichmuth. „Ihr wißt, daß nach dem Spruche des Officials unsere 21 Häuser des Lehens dem bischöflichen Stuhle frohnpflichtig sind, und daß wir diese Last mit zwei Mark abkaufen müssen. Nun wißt Ihr auch ferner, daß ich diese zwei Mark noch nicht zusammen zu bringen vermochte.“
„Ich weiß weiter nichts, als daß ich Geld brauche.“
„Und was willst Du damit machen?“Auf diese Frage glänzte ein Hoffnungsstrahl in den Augen des Studenten. Er nahm seine vorige unterwürfige und süßliche Miene wieder an.
„Seht, mein lieber Bruder,“sagte er, „ich würde mich gewiß nicht in schlechter Absicht an Euch wenden. Es ist nicht davon die Rede, mit Euren Pfennigen in der Kneipe den Wildfang zu machen, noch im goldgestickten Mantel durch die Straßen von Paris zu ziehen, den Lakaien hinter mir, cum meo laquasio. Nein, lieber Bruder, dieses Geld ist zu einem guten Werke bestimmt.“
„Zu welchem guten Werke?“fragte der Archidiakonus etwas verwundert. „Zwei meiner Freunde möchten gerne dem Kind einer armen Wittwe ein Wickelzeug kaufen. Das ist ein Almosen. Es kostet drei Gulden und ich möchte das Meinige auch dazu beitragen.“
„Wie heißen diese beiden Freunde?“
„Pierre l’Assommeur und Baptiste Croque-Oison.“
„Hm!“sagte der Archidiakonus, „die Namen dieser guten Freunde passen zu einem guten Werke wie die Faust auf ein Auge.“
Der Mühlenhans sah zu spät ein, daß er die Namen seiner beiden Freunde übel gewählt hatte.
„Und,“fuhr der kluge Priester fort, „einem armen Weib ein Kindszeug kaufen, das drei Gulden kostet!“
„Nun, zum Teufel,“fuhr der Student erbost auf, „so brauche ich also dieses Geld, um diesen Abend Isabelle im Liebesthale zu besuchen.“
„Unzüchtiger Mensch!“rief der Priester aus. „Avayvc-ía“, sagte Johannes. Dieses Citat, welches der Student boshafter Weise von der Mauer der Zelle entlehnte, machte einen sonderbaren Eindruck auf den Priester. Er biß sich in die Lippen und sein Gesicht überzog sich mit einer Schamröthe.
„Packe Dich,“sagte er zu Johannes, „ich erwarte Jemand.“
Der Student machte noch einen letzten Versuch: „Bruder Claudius, gib mir wenigstens ein halbes Livre, daß ich zehren kann.“