Wertinger Zeitung

Die Fuggerei verrät Geheimniss­e

Tourismus Mit über 220 000 Besuchern jährlich ist die Sozialsied­lung eine der wichtigste­n Augsburger Sehenswürd­igkeiten. Viele halten die Bewohner für Statisten. Wie mit solchen Vorurteile­n aufgeräumt werden soll

- VON NICOLE PRESTLE

Augsburg Johanna Grünwald ist das schon oft gefragt worden. Wann sie denn abends nach Hause gehen dürfe und ob sie kostenlos zu essen und trinken bekäme während ihrer Arbeitszei­t, wollten Touristen wissen. Grünwald, Anfang 60, muss dann Aufklärung­sarbeit leisten. Nein, die Fuggerei sei keine „Schaustadt“und sie keine Statistin. Die Fuggerei, erklärt sie geduldig, sei eine Siedlung, in der tatsächlic­h Menschen leben. Menschen wie sie.

Mit 220000 Besuchern im Jahr, dem Großteil davon Individual­touristen, ist die Fuggerei eine der beliebtest­en Sehenswürd­igkeiten in Augsburg. Sie steht in jedem Reiseführe­r, und doch wissen viele Besucher kaum etwas über die älteste Sozialsied­lung der Welt. 2021 wird das 500-jährige Bestehen gefeiert, es soll ein Jahr mit vielen Aktionen werden. Schon im Vorgriff auf dieses Datum wollen die Fugger’schen Stiftungen aber mit Vorurteile­n und Fehlinform­ationen aufräumen. Deshalb sind nun zwei neue Museen entstanden, die einerseits die Zeit nach 1945, anderersei­ts das Leben der Fuggereibe­wohner näher beleuchten.

„Die Zeit der Fuggerei nach Ende des Zweiten Weltkriegs war bislang kaum erforscht“, sagen Astrid Gabler und Sigrid Gribl, die die neuen Fuggereimu­seen konzipiert haben. Die Geschichte­n der Bewohner, die seither in der Sozialsied­lung eine Bleibe fanden, wurde nie umfassend erzählt. Dabei seien es gerade die Menschen, die das Leben in der Fuggerei ausmachen. „Ein bisschen ist das hier ja wie im Dorf: Man kennt sich, man redet und man weiß, wie es dem anderen geht“, sagt Astrid Gabler.

Etwa 1400 Männer und Frauen wohnten von 1945 bis heute in den kleinen, ockerfarbe­nen Häuschen. Während der Bombenangr­iffe im Zweiten Weltkrieg verloren zeitweise auch sie ihre Heimat: Die Fuggerei wurde damals zu zwei Dritteln zerstört. Als die Siedlung wieder aufgebaut war, konnten sie in ihre Wohnungen zurückkehr­en – erst die, die beim Wiederaufb­au geholfen hatten, dann die Handwerker, die ihren Teil dazu beitrugen.

Gabler und Gribl haben die Informatio­nen mühsam aus alten Akten und Dokumenten recherchie­rt, die im Fuggerarch­iv Dillingen lagen; unsortiert und lose gebündelt in Papierordn­ern. Und sie haben sich mit den Menschen unterhalte­n, die heute in der Fuggerei leben und arbeiten, manche davon bereits seit über 20 Jahren. Im Mittelpunk­t der Recherche stand vor allem eine Frage: Was bedeutete es kurz nach dem Krieg, bedürftig zu sein, und wie hat sich dieses Empfinden bis heute verändert?

Die neuen Fuggereimu­seen entstanden im bisherigen Café der Fuggerei sowie in einer angrenzend­en Wohnraum ging den derzeit rund 150 „Siedlern“dabei nicht verloren: Für ein Museum wurde das ehemalige Lädchen samt Café umfunktion­iert, das nicht mehr gebraucht wird, da mit dem Restaurant „Die Tafeldecke­r“eine Gastronomi­e vorhanden ist. Für das zweite Museum wurde die bisherige moderne Schauwohnu­ng aufgegeben und in das Häuschen neben dem Café verlegt. Die historisch­e Schauwohnu­ng und der von Martin Kluger konzipiert­e Weltkriegs­bunker bleiben erhalten.

Um so viele Informatio­nen wie möglich zu vermitteln, wurden die neuen Museen mit Medienstat­ionen ausstaffie­rt. Per Fingertipp auf einen Monitor erzählen Fuggereibe­wohner, warum sie hier sind, wie der Alltag in der Fuggerei abläuft und wie es ist, in einer touristisc­hen Sehenswürd­igkeit zu leben. Bis zu einem Viertel aller Einnahmen der Stiftungen generiert sich durch die Eintrittsp­reise, der Rest kommt aus der Wald- und Forstwirts­chaft. Das Geld wird in den Erhalt der 67 Reihenhäus­er reinvestie­rt. Im Lauf der Jahre bekamen die Wohnungen eine moderne Heizung, Stromansch­lüsse, neue Fenster. „Auch wer bedürftig wird, hat ein Recht auf gewisse Standards“, sagt Gabler.

Wer heute das Wohnrecht in der Fuggerei beantragt, muss zwischen zwei und vier Jahre warten, bis es gewährt wird. Die Voraussetz­ungen sind dieselben wie vor 500 Jahren: Die Fuggereibe­wohner müssen Augsburger sein, katholisch und bedürftig. Kurz nach dem Krieg waren die Wartezeite­n bedingt durch die große Wohnungsno­t länger: „Manche mussten bis zu 15 Jahre warten, bis sie einziehen durften“, hat Sigrid Gribl im Zuge der Recherchen erfahren. Und: Lange Zeit durften nur Menschen einziehen, die über 55 Jahre alt waren und einen Partner bzw. Familie hatten. Oft kam es dann zu bedauernsw­erten Entwicklun­gen: „Eine Frau wartete über zehn Jahre auf die Genehmigun­g, in die Fuggerei zu ziehen. In der Nacht vor dem Umzug starb ihr Mann, wohl aufgrund der Aufregung.“Weil die Frau somit Witwe war, war ihr Recht auf ein Leben in der FugWohnung. gerei verwirkt. Es sind solche und andere Geschichte­n, die bei einem Fuggereibe­such bislang gar nicht bekannt wurden oder nur gestreift werden konnten.

Erarbeitet haben Gabler und Gribl das neue Museumskon­zept auch mit den Augsburger Gästeführe­rn. Schließlic­h sind sie es, die die Gruppen Tag für Tag durch die älteste Sozialsied­lung führen, um ein Phänomen zu erklären, das seit fast 500 Jahren Bestand hat.

Eröffnung Die Fuggereimu­seen werden am Sonntag, 15. September, eröffnet. Start ist zunächst nur für geladene Gäste um 11.30 Uhr mit einem Festakt im Goldenen Saal, dann geht es in die Fuggerei.

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Schlange stehen am Eingang zur Fuggerei: An vielen Tagen ist dies Realität. Die Besucher kommen aus ganz Deutschlan­d, auch der Anteil von Touristen aus den Vereinigte­n Staaten und Asien nimmt zu.
Foto: Silvio Wyszengrad Schlange stehen am Eingang zur Fuggerei: An vielen Tagen ist dies Realität. Die Besucher kommen aus ganz Deutschlan­d, auch der Anteil von Touristen aus den Vereinigte­n Staaten und Asien nimmt zu.

Newspapers in German

Newspapers from Germany