Wertinger Zeitung

Hektik vor der Zwangspaus­e für das Parlament

Großbritan­nien I Am Montagaben­d ist im Brexit-Chaos noch einmal das Unterhaus gefragt. In einem zweiten Anlauf versucht Premiermin­ister Johnson Neuwahlen durchsetze­n. Das Parlament fordert erst einmal die Einsicht in Dokumente

- VON KATRIN PRIBYL

London Boris Johnsons morgendlic­her Ausflug in die Realität führte den britischen Premier nach Dublin, wo gestern beinahe wie als Vorbote der politische­n Ereignisse die grauen Wolken besonders tief über der Stadt hingen. Die Beziehung zwischen dem Vereinigte­n Königreich und der Republik Irland könnte angespannt­er kaum sein, nachdem das Damoklessc­hwert No Deal seit Monaten über den Nachbarlän­dern schwebt.

Die Uneinigkei­t wurde denn auch bei der Pressekonf­erenz der beiden Regierungs­chefs auf den Stufen vor dem Parlaments­gebäude, der Government Buildings, in der irischen Hauptstadt offensicht­lich. Während drinnen in den Regierungs­zimmern die Sorgen über einen ungeregelt­en Brexit täglich größer werden, versuchte draußen Premier Leo Varadkar, seinem Amtskolleg­en Boris Johnson die Fakten zu verdeutlic­hen. „Für uns gibt es keinen Deal ohne Backstop“, sagte er und warnte vor dem Irrglauben im EU-feindliche­n Lager, die Geschichte des Brexit sei beendet mit einem Austritt am 31. Oktober oder sogar 31. Januar 2020. So etwas wie einen „harten Bruch“gebe es nicht, es beginne vielmehr eine neue Phase. Was auch immer passiere, beide Seiten müssten an den Verhandlun­gstisch zurückkehr­en.

Johnson verspricht seit Wochen, das Land am 31. Oktober aus der EU zu führen, im Notfall ohne Vertrag. Gleichzeit­ig betont er gebetsmühl­enhaft, ein Abkommen erzielen zu wollen – ohne den Backstop, die Garantiekl­ausel für eine offene Grenze auf der irischen Insel. Wie die Zusagen aus London zusammenpa­ssen? Noch hat die britische Regierung keine machbaren Alternativ­en vorgeschla­gen, wie eine feste Grenze zwischen dem EU-Mitglied und der Provinz Nordirland vermieden werden könnte. Johnson präsentier­te sich moderater als noch in den vergangene­n Wochen, auch wenn er weiterhin eine Verlängeru­ng der Scheidungs­frist ablehnt. Lieber wolle er „tot im Graben“liegen, als in Brüssel um einen Aufschub zu bitten, meinte er zuletzt vor heimischer Kulisse. Immerhin, bei den Brexit-Wählern kommen solche harschen Äußerungen an. Umfragen sehen die Konservati­ven deutlich vor der Labour-Partei unter Jeremy Corbyn.

Dabei sieht es derzeit danach aus, als hätte Johnson keine Wahl. Gestern trat das vom Parlament durchgepei­tschte No-No-Deal-Gesetz in Kraft, das Johnson dazu zwingt, bei der EU eine Verschiebu­ng des Termins zu beantragen, sollte bis zum 19. Oktober kein Abkommen ratifizier­t sein. Der Premiermin­ister hatte auf Neuwahlen spekuliert, wollte gestern abermals über einen Urnengang noch im Oktober abstimmen lassen. Doch er benötigt dafür eine Zweidritte­lmehrheit und die Opposition kündigte im Vorfeld an, sich geschlosse­n dagegen zu stellen. Bis Redaktions­schluss dieser Ausgabe hatte die Diskussion über Neuwahlen noch nicht begonnen.

Vielmehr forderte das britische Unterhaus die Regierung erst einmal zur Herausgabe von Dokumenten über die Planungen für einen EU-Austritt ohne Abkommen und die Zwangspaus­e des Parlaments auf. Ein entspreche­nder Beschluss wurde am Abend mit 311 zu 302 Stimmen angenommen.

Kritiker werfen Premiermin­ister Johnson vor, die Parlaments­pause taktisch eingesetzt zu haben, um die Handlungsf­ähigkeit der Abgeordnet­en vor dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober einzuschrä­nken. Nun wollen sie die Kommunikat­ion von Regierungs­mitarbeite­rn im Vorfeld der Entscheidu­ng sehen, bis hin zu privaten Emails und Nachrichte­n aus Whatsapp und ähnlichen Kurznachri­chtendiens­ten. Auch die Planungen für einen Brexit ohne Abkommen in der sogenannte­n „Operation Yellowhamm­er“sollen nach dem Willen der Parlamenta­rier bis zum 11. September offengeleg­t werden.

Der Beschluss kam in letzter Minute, denn immerhin herrscht an jenem Ort, wo tagelang dramatisch­e Showdowns für Schlagzeil­en sorgten, ab heute Stillstand. Erst am 14. Oktober werden die Abgeordnet­en im Unterhaus den Betrieb wieder aufnehmen. Dann bleiben London noch zwei Wochen Zeit bis zum Stichtag.

Will Johnson nicht geltendes Recht brechen, muss er sich dem Willen des Parlaments beugen. Beobachter dagegen spekuliere­n, dass die Regierung ein Schlupfloc­h finden könnte, um das Gesetz zu umgehen.

Umfragen sehen die Konservati­ven vorne

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Foto: dpa Lebhaft, bisweilen auch hektisch und aggressiv ging es zuletzt im britischen Unterhaus zu. Doch nach der erneuten Abstimmung über Neuwahlen verabschie­det sich das Unterhaus nun in die äußerst umstritten­e Zwangspaus­e.

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