Hektik vor der Zwangspause für das Parlament
Großbritannien I Am Montagabend ist im Brexit-Chaos noch einmal das Unterhaus gefragt. In einem zweiten Anlauf versucht Premierminister Johnson Neuwahlen durchsetzen. Das Parlament fordert erst einmal die Einsicht in Dokumente
London Boris Johnsons morgendlicher Ausflug in die Realität führte den britischen Premier nach Dublin, wo gestern beinahe wie als Vorbote der politischen Ereignisse die grauen Wolken besonders tief über der Stadt hingen. Die Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und der Republik Irland könnte angespannter kaum sein, nachdem das Damoklesschwert No Deal seit Monaten über den Nachbarländern schwebt.
Die Uneinigkeit wurde denn auch bei der Pressekonferenz der beiden Regierungschefs auf den Stufen vor dem Parlamentsgebäude, der Government Buildings, in der irischen Hauptstadt offensichtlich. Während drinnen in den Regierungszimmern die Sorgen über einen ungeregelten Brexit täglich größer werden, versuchte draußen Premier Leo Varadkar, seinem Amtskollegen Boris Johnson die Fakten zu verdeutlichen. „Für uns gibt es keinen Deal ohne Backstop“, sagte er und warnte vor dem Irrglauben im EU-feindlichen Lager, die Geschichte des Brexit sei beendet mit einem Austritt am 31. Oktober oder sogar 31. Januar 2020. So etwas wie einen „harten Bruch“gebe es nicht, es beginne vielmehr eine neue Phase. Was auch immer passiere, beide Seiten müssten an den Verhandlungstisch zurückkehren.
Johnson verspricht seit Wochen, das Land am 31. Oktober aus der EU zu führen, im Notfall ohne Vertrag. Gleichzeitig betont er gebetsmühlenhaft, ein Abkommen erzielen zu wollen – ohne den Backstop, die Garantieklausel für eine offene Grenze auf der irischen Insel. Wie die Zusagen aus London zusammenpassen? Noch hat die britische Regierung keine machbaren Alternativen vorgeschlagen, wie eine feste Grenze zwischen dem EU-Mitglied und der Provinz Nordirland vermieden werden könnte. Johnson präsentierte sich moderater als noch in den vergangenen Wochen, auch wenn er weiterhin eine Verlängerung der Scheidungsfrist ablehnt. Lieber wolle er „tot im Graben“liegen, als in Brüssel um einen Aufschub zu bitten, meinte er zuletzt vor heimischer Kulisse. Immerhin, bei den Brexit-Wählern kommen solche harschen Äußerungen an. Umfragen sehen die Konservativen deutlich vor der Labour-Partei unter Jeremy Corbyn.
Dabei sieht es derzeit danach aus, als hätte Johnson keine Wahl. Gestern trat das vom Parlament durchgepeitschte No-No-Deal-Gesetz in Kraft, das Johnson dazu zwingt, bei der EU eine Verschiebung des Termins zu beantragen, sollte bis zum 19. Oktober kein Abkommen ratifiziert sein. Der Premierminister hatte auf Neuwahlen spekuliert, wollte gestern abermals über einen Urnengang noch im Oktober abstimmen lassen. Doch er benötigt dafür eine Zweidrittelmehrheit und die Opposition kündigte im Vorfeld an, sich geschlossen dagegen zu stellen. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe hatte die Diskussion über Neuwahlen noch nicht begonnen.
Vielmehr forderte das britische Unterhaus die Regierung erst einmal zur Herausgabe von Dokumenten über die Planungen für einen EU-Austritt ohne Abkommen und die Zwangspause des Parlaments auf. Ein entsprechender Beschluss wurde am Abend mit 311 zu 302 Stimmen angenommen.
Kritiker werfen Premierminister Johnson vor, die Parlamentspause taktisch eingesetzt zu haben, um die Handlungsfähigkeit der Abgeordneten vor dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober einzuschränken. Nun wollen sie die Kommunikation von Regierungsmitarbeitern im Vorfeld der Entscheidung sehen, bis hin zu privaten Emails und Nachrichten aus Whatsapp und ähnlichen Kurznachrichtendiensten. Auch die Planungen für einen Brexit ohne Abkommen in der sogenannten „Operation Yellowhammer“sollen nach dem Willen der Parlamentarier bis zum 11. September offengelegt werden.
Der Beschluss kam in letzter Minute, denn immerhin herrscht an jenem Ort, wo tagelang dramatische Showdowns für Schlagzeilen sorgten, ab heute Stillstand. Erst am 14. Oktober werden die Abgeordneten im Unterhaus den Betrieb wieder aufnehmen. Dann bleiben London noch zwei Wochen Zeit bis zum Stichtag.
Will Johnson nicht geltendes Recht brechen, muss er sich dem Willen des Parlaments beugen. Beobachter dagegen spekulieren, dass die Regierung ein Schlupfloch finden könnte, um das Gesetz zu umgehen.
Umfragen sehen die Konservativen vorne