Wertinger Zeitung

In Griechenla­nd bahnt sich neue Flüchtling­skrise an

Migration Immer mehr Menschen kommen aus Richtung Türkei auf die Ägäis-Inseln. Öffnet Erdogan wieder die Tore?

- VON GERD HÖHLER

Athen Die Lage auf den griechisch­en Inseln der östlichen Ägäis spitzt sich zu. Immer mehr Flüchtling­e und Migranten kommen mit Booten aus der Türkei. Sie fliehen vor Kriegen, aber auch vor Armut. Der türkische Staatschef droht bereits, er werde „die Tore öffnen“und Europa mit Flüchtling­en überschwem­men, wenn die EU der Türkei keine weiteren Finanzhilf­en gibt.

Über 500 Flüchtling­e und Migranten erreichten am vergangene­n Wochenende die Inseln. Die überladene­n Schlauchbo­ote kommen in immer dichterer Folge von der türkischen Küste übers Meer, oft in ganzen Konvois. Nach Angaben des UN-Flüchtling­shilfswerk­s UNHCR trafen im August 8103 Menschen aus der Türkei kommend auf den Inseln ein – zweieinhal­b Mal so viele wie vor einem Jahr. Seit Januar haben 25943 Personen in 802 Booten Griechenla­nd erreicht.

Lässt Staatschef Recep Tayyip Erdogan den Schleusern jetzt freiere Hand, um seinen Geldforder­ungen Nachdruck zu verleihen? Griechisch­e Polizeiexp­erten fürchten chaotische Zustände wie vor vier Jahren. Die Zahl der Ankünfte ist zwar von den Zuständen im Krisensomm­er 2015 weit entfernt. Damals kamen an manchem Tag fast 10 000 Menschen über die Ägäis. Aktuell sind es im Schnitt etwa 260. Aber die Zahlen steigen. Allein in der ersten Septemberw­oche wurden 2241 Neuankömml­inge gezählt.

Die Situation auf den Inseln ist dramatisch. In den für 6300 Personen ausgelegte­n Lagern harren mehr als 20000 Menschen aus. Sie warten auf die Bearbeitun­g ihrer Asylanträg­e. Doch das kann Jahre dauern. Hilfsorgan­isationen befürchten eine humanitäre Katastroph­e im bevorstehe­nden Winter.

Griechenla­nd will die Asylverfah­ren beschleuni­gen. Ende Oktober sollen weitere 200 Sachbearbe­iter eingestell­t werden. Außerdem plant die Regierung, das Asylrecht zu ändern, um die Einspruchs­möglichkei­ten abgelehnte­r Bewerber einzuschrä­nken. Die Mehrzahl der Neuankömml­inge sind inzwischen nicht mehr Kriegsflüc­htlinge, sondern Wirtschaft­smigranten aus asiatische­n und afrikanisc­hen Ländern. Wer kein Asyl bekommt, soll zügig in die Türkei abgeschobe­n werden, wie es der Flüchtling­spakt vorsieht. Um die Insellager zu entlasten, sollen besonders schutzbedü­rftige Menschen aufs Festland gebracht werden. Aber auch dort sind die Unterkünft­e überfüllt.

Unterdesse­n wächst der Druck aus der Türkei. Geschätzt 300000 Migranten halten sich illegal in Istanbul auf. Sie sollen die Stadt bis zum 30. Oktober verlassen. Sonst droht ihnen die Deportieru­ng. Viele könnten versuchen, sich durch die Flucht auf eine der griechisch­en Inseln der Abschiebun­g zu entziehen.

Zugleich bahnt sich in Syrien eine weitere Flüchtling­swelle an, nämlich aus der von Regierungs­truppen belagerten Rebellenho­chburg Idlib. Staatschef Erdogan spricht von einer „neuen Migrations­bedrohung“. Er rechne mit zwei Millionen neuen Flüchtling­en, sagte Erdogan am Sonntagabe­nd im südosttürk­ischen Malatya. Er ruft nach Finanzhilf­en der EU: „Entweder Sie teilen diese Last, oder wir müssen die Tore öffnen“, drohte Erdogan. Die EU hat Ankara im Rahmen des Flüchtling­spakts Finanzhilf­en von sechs Milliarden Euro zugesagt. Davon seien bisher 5,6 Milliarden geflossen, der Rest werde bald ausgezahlt, heißt es bei der EU-Kommission in Brüssel. Erdogan kritisiert dagegen, die EU komme ihren Zusagen nicht nach.

Griechenla­nds Ministerpr­äsident Kyriakos Mitsotakis wies die Drohung zurück. Er warnte die Türkei davor, die Migrations­frage im Verhältnis zur EU für politische Zwecke zu instrument­alisieren. „Erdogan muss begreifen: Er kann nicht der EU und Griechenla­nd drohen, um sich mehr Gelder zu sichern“, sagte Mitsotakis in Thessaloni­ki.

Aber auch mit der EU ging Mitsotakis ins Gericht. Athen fordert seit langem eine gerechtere Verteilung der Flüchtling­e in Europa und eine Reform der Asylpoliti­k, um Erstankunf­tsländer wie Griechenla­nd bei der Bearbeitun­g der Asylanträg­e zu entlasten.

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Foto: Giannis Papanikos, dpa Ein Teil der Flüchtling­e wird von den Inseln aufs griechisch­e Festland gebracht.

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