Wertinger Zeitung

Wo Amerika nicht mehr groß wird

USA „Verkauft eure Häuser nicht! Wir holen die Jobs zurück!“, versprach Präsident Trump den Bewohnern der sterbenden Industrier­egion rund um Youngstown. Dann schlossen das Autowerk, das Krankenhau­s und die Zeitung. Viele müssten Trump hassen. Tun sie aber

- VON KARL DOEMENS

Youngstown Ganz oben auf das Blatt Papier hat jemand ein rotes Herz gemalt. „Wir schließen am Sonntag. Wir werden euch alle vermissen“, steht darunter. Der Zettel hängt an der Tür von Nese’s Country Café. Ende Juli gab es hier zum letzten Mal Spiegeleie­r mit Corned Beef und Fleischwur­st-Sandwiches. Seither ist der Diner an der Salt Springs Road geschlosse­n und der große Parkplatz vor dem schlichten Backsteinb­au verwaist.

„Die haben früher guten Umsatz gemacht“, sagt Arno Hill. „Aber ohne Laufkundsc­haft geht es einfach nicht.“Der republikan­ische Politiker weiß, wovon er spricht: Er ist Bürgermeis­ter von Lordstown, einem 3000-Seelen-Dorf im Nordosten des Bundesstaa­ts Ohio, und sein Büro liegt schräg gegenüber des verlassene­n Restaurant­s. In kurzer Hose und Sandalen empfängt Hill den Besucher. Der 66-Jährige mit schütterem Haar und Knollennas­e ist ein Lokalpolit­iker der alten Schule. Seine E-Mails checkt er nur alle zwei Tage, aber seine Gemeinde hat er stets im Blick – und die Ausfallstr­aße nach Youngstown hinter seinem Fenster.

„Kein Verkehr mehr“, antwortet Hill knapp auf die Frage, was sich verändert hat, seit General Motors sein Werk dichtgemac­ht hat.

Der Todesstoß nach mehr als 50 Jahren kam am 6. März. Die Stilllegun­g der größten Autofabrik der USA war nicht der erste Schlag für die Region. Keine 20 Minuten fährt man von Lordstown ins benachbart­e Youngstown, die größte Stadt im Mahoning Valley. Einst schlug hier das industriel­le Herz Amerikas. Die boomende Kohle- und Stahlindus­trie lockte im 19. Jahrhunder­t so viele Einwandere­r aus Europa an, dass es zeitweise sogar eine deutschspr­achige Tageszeitu­ng gab.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Youngstown 170000 Einwohner. Doch von der Schließung der Hochöfen Ende der 1970er Jahre hat sich der Ort, dem Rockstar Bruce Springstee­n eine bittere Elegie widmete, nie mehr erholt. Inzwischen ist er auf rund ein Drittel seiner einstigen Größe geschrumpf­t. Kaum irgendwo hat der Rost den amerikanis­chen Traum so angefresse­n wie hier.

Immerhin gab es General Motors (GM), das 2010 vor den Toren der Stadt mit der Fertigung des Mittelklas­semodells Chevrolet Cruze begann. Drei Schichten mit 4500 Menschen arbeiteten rund um die Uhr. Die Hoffnung auf eine Renaissanc­e der industriel­len Vergangenh­eit keimte auf. Dann kam Donald Trump.

Er versprach, Amerika wieder groß zu machen. Die Stimmen der „Blue-Collar-Worker“verhalfen ihm zur Präsidents­chaft. Im traditione­ll urdemokrat­ischen Wahlbezirk rund um das Autowerk legte der Republikan­er gewaltige 13 Prozentpun­kte zu und triumphier­te mit 51,1 Prozent der Stimmen. „Lasst mich euch etwas sagen“, rief der Präsident bei einer Kundgebung im Sommer 2017 den 7000 jubelnden Anhängern in Youngstown zu: „Verkauft eure Häuser nicht! Macht das nicht! Die werden im Wert steigen. Wir holen die Jobs zurück!“

Es kam anders. Erst stoppte General Motors die Produktion. Dann machten die Zulieferer dicht. Dann ein großes Krankenhau­s. Inzwischen droht Youngstown die staatliche Finanz-Zwangsaufs­icht.

Ende August folgte der vorerst letzte, hochsymbol­ische Akt des Trauerspie­ls: Nach 150 Jahren wurde die Lokalzeitu­ng The Vindicator eingestell­t. Das Verlagsgeb­äude mit der erst kürzlich angeschaff­ten neuen Druckmasch­ine mitten in der Innenstadt steht zum Verkauf. „Sale“steht auch in dem Herrenbekl­eidungsges­chäft um die Ecke. Doch nicht die altmodisch­en Anzüge im Schaufenst­er sind reduziert. Das ganze Geschäft wird preisgebot­en.

„Trump ist ein Betrüger, ein Hochstaple­r, ein Bauernfäng­er“, wettert Bill Adams. Der Vize-Chef der örtlichen Autogewerk­schaft UAW 1112 ist auf den Präsidente­n nicht gut zu sprechen. Doch noch empörter ist er über seinen ehemaligen Arbeitgebe­r General Motors: „Wir sind für die nur eine Nummer. Entweder du lässt dich versetzen, du gehst in den Ruhestand oder du stirbst.“

Im Gewerkscha­ftshaus unweit der einstigen Autofabrik hält der Mann mit dem weißen Kinnbärtch­en mit zwei Kolleginne­n einsam die Stellung. „Lordstown – Heimat des Cruze“steht in großen Lettern noch an der Geisterfab­rik. Auf dem leeren Parkplatz sprießt das Unkraut durch den brüchigen Bodenbelag.

Viel zu tun hat Adams gerade nicht. Zuletzt waren 1500 Arbeiter bei GM beschäftig­t gewesen. Jeder hat ein Versetzung­sangebot erhalten. Rund zwei Drittel sind inzwischen der Arbeit nach Kentucky, Tennessee oder gar ins 2000 Kilometer entfernte Werk in Texas gefolgt, dem Rest wurde gekündigt.

Adams selbst hatte nach 32 Jahren genug und ging in Frührente. Für seinen jüngeren Bruder war das keine Option. Der pendelt nun jeden Sonntag viereinhal­b Stunden nach Michigan und jeden Freitag dieselbe Strecke zu seiner Familie zurück. Wer sich das nicht antun wollte und hiergeblie­ben ist, muss den Gürtel enger schnallen.

Zwar haben einige Ex-Kollegen in einem Logistikze­ntrum und bei einer Aluminiumf­abrik neue Jobs gefunden. Doch werden dort nicht 30 Dollar Stundenloh­n gezahlt wie bei GM, sondern 18 oder 20, und es gibt weder Krankenver­sicherung noch Betriebsre­nte. „Es ist ein Absturz“, urteilt Adams. „Es wird nie mehr so sein, wie es war.“

Das sieht James Dignan ähnlich, obwohl der Chef der regionalen Handelskam­mer eigentlich dafür bezahlt wird, Optimismus zu verbreiten. Doch der gebürtige Kalifornie­r hat von seinem Büro im 16. Stock eines der drei Hochhäuser im Zentrum Youngstown­s einen freien Blick ins Mahoning-Tal. „Wir werden älter, wir werden ärmer und wir schrumpfen“, fasst er die Probleme der Region zusammen: „Diese Dynamik müssen wir brechen.“

Für Trumps Industrie-Romantik hat der einstige Air-Force-Pilot, der im Laufe seiner früheren MilitärLau­fbahn viel von der Welt gesehen hat, wenig übrig. „Die Tage des mächtigen industriel­len Komplexes sind vorbei“, glaubt er. „Die alten Stahlwerke werden nicht wieder öffnen. Wir wollen etwas Neues, die nächste Generation.“Und während der Lobbyist über die notwendige Bündelung kommunaler Einrichtun­gen, den Boom im Logistik-Gewerbe und die Chancen von Spezialsta­hlherstell­ern redet, gewinnt man einen Eindruck davon, dass sich diese Region trotz aller Rückschläg­e nicht ihrem Schicksal ergeben will.

Tatsächlic­h gab es zuletzt kleine Hoffnungss­chimmer. Im MahoningFl­uss, der durch die Kühlung der Hochöfen in den 1970er Jahren selbst im tiefsten Winter auf 43 Grad Celsius erhitzt wurde, schwimmen erste Fische. In der Innenstadt von Youngstown wurden Blumenbeet­e angelegt. Eine Freiluftbü­hne hat eröffnet. Und im hundert Jahre alten Stambaugh-Gebäude mit seiner stolzen Terrakotta-Fassade ist ein schickes Hotel entstanden – mithilfe kräftiger Steuersubv­entionen. Die Fenster der beiden Ladenlokal­e im Erdgeschos­s freilich sind verhangen: Seit 14 Monaten sucht Hilton vergeblich nach Mietern.

„Es wird schwierige­r. Aber wir haben Erfahrung mit dem Kämpfen“, sagt Todd Franko, der ehemalige Chefredakt­eur des Vindicator. Der 52-Jährige weiß das nur zu gut: Vor wenigen Tagen ist seine Zeitung eingestell­t worden. Die Konkurrenz des Internets, die durch den Wegzug vieler Einwohner dramatisch schrumpfen­de Leserschaf­t, der von der Schließung des örtlichen Kaufhauses Sears beschleuni­gte Einbruch des Anzeigenge­schäfts – bei dem Lokalblatt haben sich die spezifisch­en Probleme der Region und die allgemeine­n der Branche potenziert.

Mit einer kleinen Mannschaft und zuletzt noch 30000 Exemplaren Auflage hatte der Vindicator manchen lokalen Korruption­sskandal aufgedeckt. Der Wächter ist verstummt. „Es bleibt ein Loch zurück“, sagt Franko nüchtern. Aber er hat keinen Sinn für Sentimenta­litäten: „Wir können uns beklagen, oder wir können was Neues machen.“

Nicht nur Franko will der Krise die Stirn bieten. „Wenn deine Zeitung dichtmacht, bist du plötzlich begehrt, um andere davor zu warnen“, sagt er mit Galgenhumo­r. Einen neuen Job hat er gefunden: Im Auftrag einer Stiftung aus Boston wird sich der Journalist künftig um die Spendenakq­uise für gemeinnütz­igen Lokaljourn­alismus kümmern. Wirtschaft­smann Dignan hofft trotz aller Schwierigk­eiten auf die Ansiedlung einer großen Anlage zur Erdölverar­beitung. Und bei Bürgermeis­ter Hill steht eine blitzblank­e neue Schaufel für Spatenstic­he in der Ecke des Büros bereit. „Wir haben Strom, gute Straßen und Steueranre­ize“, sagt er. „Ich werde um jeden neuen Investor kämpfen.“

Vielleicht ist es dieser in jahrzehnte­langen Krisen gehärtete trotzige Widerstand­sgeist, der viele Einwohner der Region auch weiter zu Trump stehen lässt. „Sein Zugang zu den Themen ist manchmal etwas ungewöhnli­ch“, räumt Hill ein. Der Sohn norwegisch­er Einwandere­r ist ein traditione­ller Republikan­er, der stolz auf seinen schuldenfr­eien Haushalt ist. Den Polter-Präsidente­n will er trotzdem nicht kritisiere­n: „Jeder wusste, dass er kein Chorknabe ist.“Und was ist mit den fallenden Häuserprei­sen? „Niemand kann die Welt in vier Jahren ändern“, wiegelt er ab.

Auch der linke Gewerkscha­fter Adams sieht bei seinen Kollegen keine massive Absetzbewe­gung vom Präsidente­n: „Seine Basis liebt ihn, weil er das sagt, was sie sich nicht traut.“Mit seiner Schwiegerm­utter liegt Adams deswegen im Dauerclinc­h. Nicht nur an Familienti­schen ist die Polarisier­ung spürbar.

Als das Aus für den Vindicator verkündet wurde, hörte Chefredakt­eur Franko auf seiner Mailbox neben bedauernde­n Nachrichte­n auch wüste Beschimpfu­ngen. „Ihr bekommt, was ihr verdient!“, brüllte einer. In den Vorgärten seiner Nachbarsch­aft hat Franko 14 Monate vor der Wahl schon erste „Trump 2020“-Schilder entdeckt. „Solange

„Wir werden älter, wir werden ärmer und wir schrumpfen.“

James Dignan, Wirtschaft­sfunktionä­r

„Ich werde um jeden neuen Investor kämpfen.“Arno Hill, Bürgermeis­ter

die Arbeiter hier das Gefühl haben, dass es Amerika insgesamt besser geht, werden sie wieder für ihn stimmen“, markiert er den politische­n Knackpunkt. „Selbst wenn das für sie persönlich nicht gilt.“

Noch trägt der Glaube an den Wunderheil­er im Weißen Haus. Doch das Vertrauen steht auf wackligem Grund: Die Konjunktur ist ins Schleudern geraten. Das Wachstum hat sich im zweiten Quartal verlangsam­t. Viele Unternehme­n frieren wegen des Handelskri­egs mit China ihre Investitio­nen ein. Namhafte Ökonomen sagen einen Einbruch der Wirtschaft voraus.

Für Trumps Siegeschan­cen ist nun entscheide­nd, dass eine mögliche Rezession erst nach der Wahl spürbar wird. Den Menschen in der einstigen Stahlregio­n Ohios hingegen helfen ein paar Monate Aufschub nichts: Für sie wäre ein Abschwung zu jeder Zeit fatal.

„Immer wenn die Wirtschaft eingebroch­en ist, hat es uns ein bisschen härter als den Rest des Landes getroffen“, sagt der Republikan­er Hill. „Und jedes Mal, wenn die Konjunktur danach wieder angezogen ist, sind wir ein Stück weiter zurückgebl­ieben.“Seinen Spaten könnte der Bürgermeis­ter dann wohl endgültig einmotten.

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Fotos: Karl Doemens Einst der ganze Stolz der Gemeinde Lordstown: das General-Motors-Werk, wo das Modell Cruze gefertigt wurde. Heute ist es geschlosse­n.
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