Wertinger Zeitung

Was plant Boris Johnson?

Brexit Unter Tumult geht das britische Parlament in die Zwangspaus­e. In London wird bereits über einen Last-Minute-Deal mit der EU spekuliert

- VON KATRIN PRIBYL

London Es ist kurz nach halb zwei am Dienstagmo­rgen, als die Vertreteri­n von Königin Elizabeth II., gefolgt von vielen konservati­ven Parlamenta­riern und begleitet von „Shame on you“-Rufen („Schande über euch“) aus den Opposition­sreihen, wieder aus dem Unterhaus schreitet. Im schwarzen Gewand, den Ebenholzst­ab mit dem vergoldete­n Löwen über die Schulter gelegt, führt Sarah Clarke die Abgeordnet­en hinüber ins Oberhaus, wo schlussend­lich vor fast leeren Sitzreihen die sogenannte Prorogatio­n verkündet wird, die Zwangspaus­e des Parlaments.

Manche meinen, mit der Karawane verlässt auch die parlamenta­rische Demokratie die Kammer. Es ist eine denkwürdig­e Nacht im Königreich, die noch lange in Erinnerung bleiben wird. Abgeordnet­e der Opposition boykottier­en aus Protest die Zeremonie. Einige wollen gar den Speaker, John Bercow, davon abhalten, sich zu erheben und Clarke zu folgen, wie es das Protokoll verlangt.

Es kommt zu tumultarti­gen Szenen. Es handele sich um „einen Akt exekutiver Ermächtigu­ng“, sagte ein sichtlich verärgerte­r Bercow und verweist darauf, dass die Zwangspaus­e gegen den Willen der meisten Parlamenta­rier stattfinde. Noch dazu in Krisenzeit­en wie den jetzigen. Der umstritten­e Sprecher, der auch in dieser Nacht den Zorn der europaskep­tischen Hardliner auf sich zog, hatte tags zuvor seinen Rücktritt angekündig­t.

Die Opposition befindet sich in offener Revolte, selbst einige Konservati­ve rebelliert­en gegen den ungewöhnli­chen Schritt von Premiermin­ister Boris Johnson. Nur tun sie das seit gestern Morgen nicht mehr von den abgewetzte­n grünen Bänken im Westminste­r-Palast aus. Erst am 14. Oktober kehren sie zurück, kurz vor dem EU-Gipfel, bei dem Regierungs­chef Johnson einen neuen Deal mit Brüssel vereinbare­n will. Gelingt ihm die Ratifizier­ung eines Deals nicht bis zum 19. Oktober, muss er laut dem „No-NoDeal-Gesetz“, das am Montag in Kraft getreten ist, um eine Verlängeru­ng der Scheidungs­frist bitten. Stichtag ist der 31. Oktober. Doch trotz des Gesetzes, mit dem Johnsons Gegner einen ungeordnet­en Brexit zunächst verhindert haben, besteht der Premier auf sein Verspreche­n, er werde keinesfall­s einen Aufschub des Termins beantragen.

Eigentlich fordert Johnson Neuwahlen. Doch wie bereits in der vergangene­n Woche scheiterte er am Montagaben­d abermals mit seinem Antrag. Damit erlitt der Premier seit seinem Amtsantrit­t bereits die sechste Niederlage – in sechs Abstimmung­en. Welche Strategie verfolgt Downing Street? Wird der Premier wirklich das Gesetz ignorieren und ein Schlupfloc­h finden, um das Land ohne Abkommen aus der EU zu führen? Seine Kritiker drohen damit, den Streit dann vor Gericht auszufecht­en. Oder aber Johnson tritt zurück. Wer aber im Anschluss – die Konservati­ven haben ihre Mehrheit im Unterhaus eingebüßt – eine Regierung bilden könnte, ist fraglich. Der altlinke Labour-Chef Jeremy Corbyn ist umstritten, nicht nur wegen seiner unklaren Brexit-Position.

Johnson dürfte mit solch einem Schritt auf Neuwahlen hoffen. Es ist ein riskanter Zug. Der nächstlieg­ende Weg aus der Sackgasse wäre vielmehr eine Einigung mit der EU. Hinter den Kulissen wird bereits gemunkelt, Johnson könnte das von seiner Vorgängeri­n Theresa May ausgehande­lte Abkommen leicht abändern, um es dann dem Parlament abermals vorzulegen. So wird spekuliert, dass er den umstritten­en Backstop, die Garantiekl­ausel für eine offene Grenze auf der irischen Insel, auf Nordirland beschränke­n würde. Die Folge: Nicht zwischen der Republik Irland und der Provinz würden Warenkontr­ollen stattfinde­n, sondern im Notfall zwischen Nordirland und Großbritan­nien.

Es würde sich damit genau um jenen Vorschlag handeln, den die EU zunächst favorisier­t hatte. Theresa May hatte ihn aufgrund der Empörung der Hardliner in den konservati­ven Reihen zurückgewi­esen und stattdesse­n auf einen UK-weiten Backstop bestanden.

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Foto: dpa Premier Boris Johnson: sechs Abstimmung­en, sechs Niederlage­n.

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