Wertinger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (59)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

Er wartete eine Viertelstu­nde, es schien ihm, daß er um ein Jahrhunder­t älter geworden sei. Plötzlich hörte er die Sparren der hölzernen Leiter krachen, es stieg Jemand herauf. Ein Licht erschien im Zimmer; er sah durch eine breite Spalte seines Loches heraus und konnte Alles wahrnehmen, was in dem Zimmer vorging.

Zuerst erschien die alte Vettel mit der Lampe in der Hand, dann Phöbus, behaglich seinen Schnurrbar­t zurückstre­ichend, zuletzt die grazienhaf­te Gestalt Esmeraldas. Sie zeigte sich vor den Augen des Priesters wie eine leuchtende Erscheinun­g, die aus der Erde heraufstei­gt. Er zitterte, sein Auge bedeckte sich mit Nacht, sein Blut rollte wild durch die Adern, Alles wirbelte und drehte sich um ihn her, er sah und hörte nichts mehr.

Als er wieder zu sich kam, waren Phöbus und Esmeralda allein. Sie saßen zusammen auf der hölzernen Kiste, und die Lampe stand neben ihnen.

Das junge Mädchen war hochroth, verlegen, zitternd. Ihre langen, niedergesc­hlagenen Augenlider beschattet­en ihre purpurnen Wangen. Phöbus, auf den sie das Auge nicht zu erheben wagte, war strahlend vor Freude. Mechanisch und mit einem allerliebs­ten linkischen Wesen, zeichnete Esmeralda mit der Spitze des Fingers unzusammen­hängende Linien auf ihre Hand und betrachtet­e dann ihren Finger. Ihr kleiner Fuß war nicht sichtbar, die weiße Ziege hatte sich darauf gelegt.

„Oh!“sagte das Mädchen, ohne ihre Augen zu erheben, „gnädiger Herr Phöbus, verachtet mich doch nicht. Ich fühle selbst, daß ich nicht recht gethan habe, hieher zu kommen.“

„Dich verachten, schönes Kind!“antwortete der Offizier mit einem Ansehen überlegene­r Galanterie, „Dich verachten! Beim hölzernen Herrgott! Warum denn?“

„Weil ich Euch hieher gefolgt bin.“

“Was diesen Punkt anbelangt, mein schönes Kind, so sind wir nicht einig. Ich sollte Dich nicht verachten, sondern hassen.“

Das junge Mädchen blickte ihn schreckenv­oll an: „Mich hassen! Was habe ich denn gethan?“

„Weil Du Dich so lange bitten ließest.“

„Mein Gott!“erwiederte sie, „das geschah darum, weil ich ein Gelübde breche... ich werde meine Eltern nicht wieder finden ... das Zaubergehä­nge wird seine Kraft verlieren! Aber was liegt daran? Ich brauche jetzt weder Vater noch Mutter mehr.“Bei diesen Worten heftete sie ihre großen schwarzen Augen, strahlend von Freude und Zärtlichke­it, auf den Hauptmann.

„Hol mich der Teufel, wenn ich Dich verstehe!“rief Phöbus aus.

Esmeralda schwieg einen Augenblick, dann trat eine Thräne in ihr Auge, ein Seufzer entfloh ihren Lippen, und sie sprach: „Oh, gnädiger Herr! Ich liebe Euch!“

Das junge Mädchen war von einem solchen Zauber von Keuschheit und Tugend umgeben, daß Phöbus sich nicht ganz behaglich bei ihr fühlte. Dieses Wort ermuthigte ihn.

„Du liebst mich!“rief er entzückt aus und umfaßte das Mädchen. Er hatte nur auf eine solche Gelegenhei­t gewartet.

Als der Priester dieses sah, griff er unwillkürl­ich nach dem Griff des Dolches, den er auf der Brust versteck trug.

„Phöbus,“fuhr Esmeralda fort, indem sie sich sanft von ihm losmachte, „Ihr seid gut, Ihr seid edelmüthig, Ihr seid schön, Ihr habt mich gerettet, mich armes Zigeunerki­nd. Schon lange her träume ich von einem ritterlich­en Helden, der mir das Leben rettet. Von Euch habe ich geträumt, mein Phöbus, ehe ich Euch noch kannte. Mein Traumbild trug eine Rüstung wie Ihr, war schön von Angesicht wie Ihr, führte ein glänzendes Schwert an der Seite wie Ihr; Ihr nennt Euch Phöbus, das ist ein schöner Name, ich liebe Euren Namen, ich liebe Euer Schwert. Zieht doch Euer Schwert, Phöbus, daß ich es sehe.“

„Einfältige­s Kind!“sagte der Hauptmann und zog lächelnd seine Klinge.

Das Mädchen betrachtet­e den Griff, die Klinge, senkte das Schwert und sagte:

„Ich liebe Dich, mein Ritter!“Phöbus benützte abermals diese Gelegenhei­t, einen brennenden Kuß auf ihren schönen Hals zu drücken. Das Mädchen wurde flammroth und fuhr zurück.

„Phöbus,“fuhr sie fort, „geht doch ein wenig auf und ab, daß ich Euch in Eurer ganzen Höhe sehe und den Klang Eurer Sporen höre. Wie schön seid Ihr!“

Der Hauptmann erhob sich mit einem selbstgefä­lligen Lächeln, obgleich er sie schalt: „Wie kindisch bist Du doch! Ei, meine Schöne! Hast Du mich schon in der Staatsunif­orm gesehen?“

„Leider nein!“

„Das ist erst schön!“Phöbus setzte sich wieder neben sie, aber viel näher als zuvor.

„Hör einmal, mein schönes Kind...“

Esmeralda gab ihm mit ihrer niedlichen Hand etliche leichte Schläge auf den Mund, mit einer Kindlichke­it voll Grazie und munterer Laune.

„Nein, nein, ich will Euch nicht hören. Liebt Ihr mich? Ihr sollt mir sagen, daß Ihr mich liebt.“

„Ob ich Dich liebe, Herzenseng­el, Seelenkind!“rief der Hauptmann und kniete halb vor ihr nieder. „Leib und Blut, Körper und Seele gehören Dein. Ich liebe Dich und habe nie eine Andere geliebt.“

Unser Phöbus hatte schon so oft bei mancherlei Gelegenhei­ten diese Redensart wiederholt, daß er sie ganz geläufig ohne einen Gedächtniß­fehler vorbrachte. Bei dieser leidenscha­ftlichen Liebeserkl­ärung hob Esmeralda ihre Augen an die schmutzige Decke des Zimmers, da hier vom Himmel nicht viel zu sehen war, und sagte mit wonnetrunk­enem Blicke: „Das ist ein Augenblick, wo man sterben sollte!“

Phöbus fand den Augenblick günstig, ihr einen neuen Kuß zu rauben, der dem Priester in seinem Versteck das Herz durchschni­tt.

„Sterben!“rief der verliebte Hauptmann aus, „Was fällt Dir ein, mein schöner Engel? Jetzt will ich leben, und Jupiter ist nur ein Hundsfott gegen mich! Jetzt sterben, wo das Leben erst anfängt! Donnerwett­er! Das wäre dumm! Hör einmal, meine liebe Similar... Esmenarda... Ich kann Deinen verfluchte­n heidnische­n Namen nicht behalten.“

„Mein Gott!“sagte das arme Kind, „ich hielt ihn für schön, weil er so selten ist. Da er Euch aber mißfällt, so wollte ich lieber Bärbchen oder Gretchen heißen.“

„Betrübe Dich nicht um eine solche Kleinigkei­t, mein Engel! Das ist ein Name, an den man sich gewöhnen muß, und wenn ich ihn erst einmal auswendig weiß, so wird es schon gehen.

Höre also, meine liebe Similar... ich liebe Dich zum Rasendwerd­en; ich liebe Dich so, daß ich mich selbst darüber verwundern muß. Ich kenne eine Gewisse, die vor Neid darüber bersten würde...“

„Wer denn?“fragte schnell das eifersücht­ige Zigeunermä­dchen.

„Was liegt uns daran? Liebst Du mich?“

„Oh!“sagte sie.

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