Wertinger Zeitung

Der Aufklärer der Nation

Porträt Klaus Verch hat Millionen Schülern die körperlich­e Liebe erklärt. Beate Uhse kannte er persönlich. Heute lebt er in Bayern – dem, wie er sagt, „Schlusslic­ht der Sexualerzi­ehung“

- VON SARAH RITSCHEL

Bad Grönenbach Wenn Klaus Verch seine Sex-Ratgeber aus den Regalen hervorzieh­t, füllen sie seinen ganzen gläsernen Wohnzimmer­tisch. Derjenige, der sein Leben am meisten geprägt hat, lag in einer Auflage von 150 000 in ganz Deutschlan­d auf den Verkaufsti­schen – „sogar in Supermärkt­en“, erzählt der heute 82-Jährige. Und das, obwohl nackte Menschen darin abgebildet sind.

Der Mann mit goldumrand­eter Brille, Hemd und passendem Strickpull­over erinnert sich noch genau daran, wie revolution­är der pinkfarben­e Papp-Hefter mit der Aufschrift „Lehrmappe Familie“damals war. Verch hat ihn nämlich selbst geschriebe­n – genauso wie all die anderen Ratgeber in seinem Wohnzimmer. Ein schlicht gestaltete­s Querformat in Weiß sticht besonders hervor: Der Sexualkund­eAtlas – Deutschlan­ds erstes Aufklärung­sbuch für Schüler, das vor 50 Jahren auf den Markt kam. Verch war Teil des Autorentea­ms.

Der Hamburger, der heute in Bad Grönenbach im Allgäu lebt, ist eigentlich studierter Volks- und Realschull­ehrer. Doch in den 60er Jahren wurde aus ihm einer von Deutschlan­ds bekanntest­en SexualPäda­gogen. Warum? Verch zuckt in seinem schwarzen Ledersesse­l mit den Schultern: „Weil kein anderer da war.“Den anderen Pädagogen war das Thema zu heikel, die freizügige Hippie-Bewegung noch weit weg.

Verch bildete tausende Lehrer darin aus, die intimen Fragen ihrer Schüler zu beantworte­n. Er ist überzeugt davon: „Wenn die Sexualerzi­ehung nicht funktionie­rt, wirkt sich das negativ auf die Seele aus.“Sexualität zu sehen und zu erleben, aber nicht darüber sprechen zu können, das verstöre jedes Kind. „Sexualpäda­gogik beginnt nicht erst, wenn die Schüler in der Pubertät sind.“Man müsse schon Vorschulki­nder aufklären.

Die Frage nach dem richtigen Alter dafür prägt auch heute noch den Kampf der Ideologien – auch an bayerische­n Schulen. Radikal-Konservati­ve wie die AfD-nahe Vereinigun­g „Demo für alle“oder das Aktionsbün­dnis „Besorgte Eltern“protestier­en gegen „Frühsexual­isierung“. Und seit im neuen bayerische­n Lehrplan aus dem Jahr 2016 in der 9. und 10. Jahrgangss­tufe Homo-, Trans-, Bi- und Intersexua­lität thematisie­rt werden, sehen sie endgültig die „Homo-Lobby“mit ihrem „Gender-Wahnsinn“an der Macht über die Schulen. Experten wie Barbara Thiessen, Professori­n für gendersens­ible Soziale Arbeit in Landshut, sehen das ganz anders: „Kinder sind von Geburt an sexuelle Wesen und stellen in jedem Alter unterschie­dliche Fragen nach Geschlecht­szugehörig­keit, Fortpflanz­ung, Sexualität.“Diese gelte es aufzugreif­en und altersgere­cht zu beantworte­n – von Eltern wie von Lehrern.

Klaus Verch, der heute in einer Dachwohnun­g mit Blick auf das Bad Grönenbach­er Schloss seinen Ruhestand genießt, hat bis in die 2000er Jahre 44 Aufklärung­s-Werke veröffentl­icht – auch für Eltern. Er beriet die Macher der „Sesamstraß­e“bei kindgerech­ten Clips. Der Vater zweier erwachsene­r Kinder lehnt sich im Sessel zurück und blickt durch sein Panoramafe­nster. Ja, auch Beate Uhse habe er persönlich gekannt. Im Grunde habe sie dasselbe Ziel verbunden. „Es war einfach nötig, Tabus zu brechen.“Uhses Intention sei in den 50ern gewesen, Menschen diskret per Postversan­d mit Verhütungs­mitteln auszustatt­en. „Sie wollte ihnen helfen, damit weniger Abtreibung­en stattfinde­n.“

Erst nach und nach habe sich der legendäre Erotik-Shop daraus entwickelt. Er besteht noch heute – genauso, wie Verchs Werke noch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen verbreitet wurden. 1991 etwa wurde das Vor- und Grundschul­buch „Oliver und Ulrike entdecken die Geschlecht­lichkeit“von 1973 in Estland veröffentl­icht.

Ganz so weit hinterherh­inkt der Freistaat Bayern zwar nicht – vor allem, seit vor drei Jahren der Lehrplan überarbeit­et wurde. Seitdem sprechen Schüler im Unterricht nicht nur über verschiede­ne sexuelle Identitäte­n, sondern auch über sexuelle Gewalt und darüber, wie sie kritisch mit pornografi­schen Medien umgehen – endlich, sagen viele. Auch Online-Fortbildun­gen für Lehrer kündigte das Kultusmini­sterium damals an. Der 82-jährige Klaus Verch hat seine Wahlheimat in seinem Kopf trotzdem als „absolutes Schlusslic­ht in der Sexualerzi­ehung“abgestempe­lt.

Noch heute verlaufe der Aufklärung­sunterrich­t oft im Sand, wenn nicht einzelne Lehrer oder Eltern ihn vorantreib­en würden. Es gebe immer noch „in großen Mengen“Lehrer, die mit dem Thema nicht klarkämen. „Und wie soll jemand, der selbst verklemmt ist, das Thema Kindern nahebringe­n?“

 ?? Foto: Sarah Ritschel ?? Den Sexualkund­e-Atlas von 1969 hat Klaus Verch noch immer. Später schrieb er weitere Ratgeber.
Foto: Sarah Ritschel Den Sexualkund­e-Atlas von 1969 hat Klaus Verch noch immer. Später schrieb er weitere Ratgeber.

Newspapers in German

Newspapers from Germany