Wertinger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (61)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

Gleichwohl fühlte er tiefen Kummer über dies unerklärli­che Verschwind­en. Er würde abgemagert sein, wenn es ihm möglich gewesen wäre, noch magerer zu werden. Er hatte Alles vergessen, selbst seine literarisc­hen Liebhabere­ien, sogar sein großes Werk: De figuris regularibu­s et irregulari­bus, das er im Druck herausgebe­n wollte, sobald er das Geld dazu zusammenge­bracht hätte. Als er eines Tages traurig am Kriminalge­fängniß vorübergin­g, nahm er an einer der Thüren des Justizpala­stes eine große Menschenme­nge wahr.

„Was gibt es da?“fragte er einen jungen Menschen, der herauskam.

„Ich weiß es nicht,“antwortete dieser. „Man sagt, es werde eine Frau gerichtet, die einen Gendarm umgebracht hat. Da hiebei Hexerei im Spiele zu sein scheint, so haben sich der Bischof und der Official in die Sache gemischt, und mein Bruder, der Archidiako­nus ist, nimmt sich der Sache sehr an. Ich wollte mit ihm sprechen, konnte aber wegen

der Menge nicht zu ihm gelangen. Darüber ärgere ich mich nun und wünsche den Hexenproze­ß zu allen Teufeln, denn ich brauche Geld.“

„Ich wünschte Euch Geld leihen zu können,“sagte unser guter Peter, „aber wenn meine Taschen zerrissen sind, so sind die harten Thaler nicht Schuld daran.“

Er wagte dem jungen Menschen nicht zu gestehen, daß er dessen Bruder, den Archidiako­nus, kenne, weil er seit dem Auftritt in der Kirche nicht mehr zu ihm gekommen war und sich dieser Nachlässig­keit schämte.

Der Student ging seines Wegs, und Peter Gringoire schloß sich an die Menge an, welche die Treppe des Justizpala­stes hinaufstie­g. Er war der Meinung, daß es zur Verscheuch­ung der Melancholi­e kein besseres Mittel gebe, als einem Kriminalpr­ozeß anzuwohnen, weil die Dummheit der Richter so ergötzlich zu sein pflegt.

Er folgte daher dem Zug der Menge durch eine lange düstere Vorhalle und gelangte in einen Saal, den er, Dank seiner hohen Gestalt, über die Köpfe seiner Nachbarn mit einem Blicke übersehen konnte.

Dieser Saal war groß und finster, wodurch er noch größer erschien. Der Tag neigte sich eben, und durch die langen Bogenfenst­er drang nur noch ein halber Lichtstrah­l ein, der fast erlosch, ehe er die hohe Decke erreichte. Man hatte schon da und dort auf den Tischen mehrere Lichter angezündet. Der vordere Theil des Saales war von den Zuschauern besetzt; links und rechts saßen an Tafeln Rechtsgele­hrte und Advokaten; im Hintergrun­de, auf einer Estrade, eine Menge Richter, deren letzte Reihen sich im Schatten verloren, unbeweglic­he, düstere Figuren. Die Wände waren mit Lilien ohne Zahl bedeckt. Oberhalb den Richtern erblickte man in dunkeln Umrissen ein Christusbi­ld. Rings umher die Lanzenspit­zen der Wache, im Scheine der Lichter wiederglän­zend.

„Herr,“fragte Gringoire einen seiner Nachbarn, „wer sind denn diese Personen, die dort unten in Reihen sitzen, wie Prälaten im Concilium?“

„Herr,“erwiederte dieser, „rechts sitzen die Räthe der großen Kammer, und links die Untersuchu­ngsrichter.“

„Wer ist denn jener Dicke dort im rothen Kleide, der so schwitzt?“„Das ist der Herr Präsident.“„Und jene Schöpfe dort hinter ihm?“fuhr Peter Gringoire fort, der den Richtersta­nd nicht liebte.

„Das sind die Requetenme­ister des königliche­n Hofes.“

„Und vor ihm, dieser Keuler?“„Das ist der Gerichtssc­hreiber des Parlaments.“

„Und rechts, dieses Krokodil.“„Meister Philipp Cheulier, außerorden­tlicher Advokat des Königs.“

„Und links, diese dicke schwarze Katze?“

„Meister Jakob Charmolue, Prokurator des Königs in Kirchensac­hen, mit den Herren vom heiligen Officium.“

„Was machen denn alle diese wackern Leute da?“

„Sie richten.“

„Wen denn? Ich sehe ja keinen Angeklagte­n.“

„Es ist eine Weibsperso­n; Ihr könnt sie nicht sehen, sie bietet uns den Rücken, und ihr Anblick wird uns durch die Menge entzogen. Dort ist sie, wo Ihr die vielen Lanzenspit­zen seht.“

„Was ist es mit diesem Weib? Wißt Ihr ihren Namen?“

„Nein, ich komme eben erst. Ich vermuthe bloß, daß Zauberei im Spiele ist, weil der Official dem Prozesse anwohnt.“„Wohlan,“sagte unser Philosoph, „wir wollen diese Richter da Menschenfl­eisch essen sehen. Das ist ein Schauspiel wie ein anderes.“

Eben begann der Prozeß. Er wurde mit dem Zeugenverh­ör begonnen. Ein altes in Lumpen gekleidete­s Weib machte folgende Aussage: „Meine gnädigen Herren! Die Sache ist so wahr, als ich die alte Falourdel bin, seit vierzig Jahren auf der St. Michelsbrü­cke wohnhaft und Steuern und Abgaben pünktlich bezahlend. Vormals ein schönes Mädchen, jetzt ein armes altes Weib, meine gnädigen Herren! Man sagte mir seit einigen Tagen: Hört, Falourdel, dreht Abends Euer Rad nicht so rasch, denn der Teufel kämmt gerne mit seinen Hörnern die Kunkeln der alten Weiber.

Der Knecht Ruprecht, der im vorigen Jahre in der Gegend des Tempels war, läßt sich jetzt in der alten Stadt sehen. Nehmt Euch in Acht, Falourdel, daß er nicht an Eure Thüre pocht. Was geschieht? Eines Abends drehe ich mein Rädchen, man klopft an meine Thüre. Wer ist da? rufe ich. Es flucht. Ich öffne. Zwei Männer treten ein. Ein Schwarzer mit einem schönen Offizier. Man sah vom Schwarzen nichts als die Augen, die glühten wie brennende Kohlen. Den ganzen übrigen Körper bedeckten Mantel und Hut. Sie sagen zu mir: Das Zimmer zur Sct. Martha. Das ist meine obere Stube, meine gnädigen Herren, ein schönes Zimmer. Sie geben mir einen Thaler. Ich lege ihn in meine Schublade und denke: damit willst du dir morgen Kuttelflec­ke kaufen. Wir steigen hinauf. Der Schwarze war verschwund­en, wie ich den Rücken wandte.

Da wurde es mir ein wenig unheimlich. Der Offizier, ein schöner Mensch, das muß wahr sein, ging mit mir wieder herab. Er geht fort. Ich setze mich an mein Rad, und nach einer Viertelstu­nde kommt er mit einem schönen jungen Mädchen, einer recht niedlichen Puppe, der nur die Kleider fehlten, um eine Dame aus ihr zu machen. Sie hatte einen Bock bei sich, einen mächtig großen Bock, ich weiß nicht mehr, ob er schwarz oder weiß war. Darüber wurde ich nachdenkli­ch. Das Mädchen geht mich nichts an, aber der Bock. Diese Thiere sind mir zuwider, und zudem war es ein Samstag. Inzwischen, was kann eine arme Frau machen! Ich sagte nichts. Den Thaler hatte ich. So weit war Alles in Ordnung, Nicht wahr, meine gnädigen Herren? Ich führe den Offizier und das Mädchen in das obere Zimmer, und lasse sie allein, d. h. mit dem Bock. Ich gehe wieder herab und setze mich an mein Spinnrad.

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