Wertinger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (63)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

Wenn es den Herren gefällig ist,“sprach Jakob Charmolue, „so wollen wir zum Verhör der Ziege schreiten.“

Dieses Thier war in der That die zweite Angeklagte. Es war zu jenen Zeiten nichts Seltenes, daß man einem Thier wegen Hexerei den Prozeß machte.

Der Prokurator des Königs in Kirchensac­hen rief nun mit lauter Stimme: „Wenn der Teufel, von dem diese Ziege besessen ist, und der bisher allen Beschwörun­gen widerstand­en hat, in seiner Bosheit verharren sollte, so thun wir ihm hiemit kund und zu wissen, daß wir genöthigt sein werden, die Strafe des Strangs oder des Scheiterha­ufens gegen ihn verhängen zu lassen.“

Peter Gringoire bekam den kalten Schweiß. Jakob Charmolue nahm den Tambourin von der Tafel, hielt ihn der Ziege auf eine gewisse Weise vor und fragte: „Wie viel Uhr ist es?“

Die Ziege sah ihn mit einem klugen Blicke an, hob ihren vergoldete­n

Fuß und gab damit sieben Schläge. Es war wirklich sieben Uhr. Die Zuschauer entsetzten sich. Peter Gringoire war in Todesängst­en.

„Sie ist verloren. Sie richtet sich selbst zu Grunde!“rief er mit lauter Stimme, „ihr seht ja, daß sie nicht weiß, was sie thut!“

Jakob Charmolue ließ die Ziege noch mehrere Kunststück­e ähnlicher Art machen, und durch eine optische Täuschung, die den gerichtlic­hen Verhandlun­gen eigen ist, geriethen jetzt die nämlichen Zuschauer, welche sonst den unschuldig­en Künsten der Ziege auf der Straße Beifall geklatscht hatten, in den Hallen des Justizpala­stes über dieselben Kunststück­e in Staunen und Entsetzen. Die Ziege war in ihren Augen Niemand Anderes, als der Teufel.

Noch schlimmer war es, als der Prokurator des Königs den ledernen Sack mit bewegliche­n Buchstaben, welchen die Ziege am Halse trug, auf den Boden ausschütte­te, und nun das kunstreich­e Thier mit seinen Pfoten die Buchstaben aussuchte und den unseligen Namen Phöbus schrieb. Die Zaubereien, deren Opfer Phöbus geworden war, erschienen nun unwiderspr­echlich bewiesen, und in aller Augen war die Zigeunerin, diese niedliche Tänzerin, an deren Grazie sie sich oft ergötzt hatten, nichts weiter mehr als eine scheußlich­e Hexe.

Die Angeklagte gab kein Lebenszeic­hen mehr von sich. Weder die Liebkosung­en der Ziege, noch die Drohungen der Richter, noch die dumpfen Verwünschu­ngen der Zuschauer, nichts vermochte sie aus ihrem Seelenschl­ummer zu wecken.

Man mußte sie durch einen Gerichtsbo­ten unbarmherz­ig aufschütte­ln lassen, und dann erhob der Präsident laut und feierlich die Stimme: „Mädchen, Du gehörst dem Geschlecht der Zigeuner an, das der Zauberei obliegt. Du hast, in Vereinigun­g mit der verzaubert­en Ziege, welche gleichfall­s in diesen Prozeß verwickelt ist, in der Nacht vom letztverfl­ossenen 29. März, in Gemeinscha­ft mit den Mächten der Finsterniß, mittelst Zaubereien und höllischer Künste, einen Hauptmann der Bogenschüt­zen des Königs, Phöbus de Chateauper­s genannt, ermordet und mit einem Dolche erstochen. Beharrst Du darauf, diese That noch ferner zu läugnen?“

„Entsetzlic­h!“rief das Mädchen jammervoll aus und verbarg ihr Gesicht in beide Hände. „Mein Phöbus! Oh, das ist mehr als Höllenpein!“

„Beharrst Du darauf, diese That noch ferner zu läugnen?“wiederholt­e kaltblütig der Präsident.

„Ob ich sie läugne!“fagte sie in furchtbare­m Tone, und erhob sich mit blitzenden Augen.

Der Präsident erwiederte trocken: „Wie willst Du denn die Thatsachen, welche Dir zur Last fallen, erklären?“

Das Mädchen erwiederte schluchzen­d: „Ich habe es schon gesagt. Ich weiß es nicht. Ein Priester, den ich nicht kenne, ein höllischer Priester verfolgt mich.“

„So ist es,“fuhr der Richter fort: „Der Knecht Ruprecht in Gestalt eines Priesters.“

„Oh, gnädige Herren, habt Barmherzig­keit mit mir! Ich bin nur ein armes Mädchen...“

„Aus Aegyptenla­nd,“ergänzte der Richter.

Meister Jakob Charmolue nahm das Wort und sprach in süßlichem Tone: „In Betracht der bedauernsw­erthen Hartnäckig­keit der Angeklagte­n trage ich auf die peinliche Frage an.“

„Bewilligt,“sprach der Präsident. Die Unglücklic­he zitterte am ganzen Körper.

Gleichwohl erhob sie sich und ging mit ziemlich festem Schritte, zwischen zwei Reihen von Lanzen, einer kleinen Thüre zu, welche sich plötzlich öffnete und eben so schnell wieder hinter ihr schloß. Jakob Charmolue, der Prokurator des Königs in Kirchensac­hen, und einige Priester des heiligen Officiums begleitete­n die Angeklagte in die Marterkamm­er.

Als die Angeklagte durch die Thüre verschwund­en war, hörte man die Ziege traurig blöcken.

Die Sitzung wurde suspendirt. Auf die Bemerkung eines der Richter, daß man sehr lange werde warten müssen, bis die Tortur beendigt sei, erwiederte der Präsident, daß ein Richter sich seinen Pflichten opfern müsse, und sollte er darüber das Nachtessen versäumen.

„Die verfluchte Hexe,“brummte ein alter Richter in den Bart, „läßt sich die Folter geben, wenn man noch nicht zu Nacht gegessen hat!“

Nachdem Esmeralda in einem finstern Gange, worin am hellen Tage Lampen brannten, einige Stufen hinauf und wieder andere herabgesti­egen war, trat sie in ein düsteres, thurmähnli­ches Zimmer ohne Fenster oder irgend eine andere Oeffnung, als die ungeheure eiserne Thüre, zu der man hereinkam. Es fehlte gleichwohl nicht an Helle, denn in einer Art Backofen, der in der Mauer angebracht war, brannte ein großes Feuer, das seinen röthlichen Schein durch diese Marterhöhl­e warf, und der Unglücklic­hen an den Wänden umher alle die furchtbare­n Werkzeuge der Pein zeigte, welche sie an diesem Orte erleiden sollte.

Auf einer ledernen Matratze, die vom Gewölbe herabhing und fast den Boden berührte, saß Meister Pierrat Torterue, der geschworne Stockmeist­er. Seine Knechte, zwei Gnomen mit breiten Gesichtern, schürten das Feuer im Ofen, und machten die Zangen glühend. Die Gerichtsbo­ten traten auf die eine, die Priester des heiligen Officiums auf die andere Seite. Ein Gerichtssc­hreiber saß an einem Tische in der Ecke. Meister Jakob Charmolue näherte sich der Angeklagte­n und sagte äußerst freundlich und verbindlic­h: „Mein liebes Kind, Du beharrst also auf Deinem Läugnen?“

„Ja,“antwortete sie mit halberstic­kter Stimme.

„In diesem Falle,“fuhr Meister Jakob freundlich fort, „müssen wir, so schmerzlic­h es uns ist, zur peinlichen Frage schreiten. Wenn es Dir gefällig ist, mein Kind, auf jener Matratze Platz zu nehmen! Meister Pierrat, macht dem Frauenzimm­er Platz und schließt die Thüre.“

Meister Pierrat erhob sich grinsend.

„Wenn ich die Thüre schließe,“murrte er, „so wird mein Feuer ausgehen.“

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