Müssen sich Politiker alles gefallen lassen?
Gesellschaft Soll eine Ex-Ministerin Beschimpfungen wie „Geisteskranke“und „Dreckschwein“einfach so hinnehmen? Die Grünen-Abgeordnete Renate Künast meint: Nein. Ein Gericht sieht das unter bestehenden Umständen anders
Berlin Druckreif ist alles nicht, aber in Zeiten der Sozialen Netzwerke gelten schon lange andere Maßstäbe. Nicht nur im Internet, sondern auch vor deutschen Gerichten, wie jetzt die frühere Bundeslandwirtschaftsministerin und Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast schmerzlich erfahren musste. Unbekannte hatten sie im Internet unter anderem als „Stück Scheiße“und „altes grünes Dreckschwein“bezeichnet und noch drastischere und auch sexistische Posts geschrieben. Die 63-Jährige zog nun dagegen vor Gericht. Und verlor. Zumindest vor dem Landgericht scheiterte sie mit dem Versuch, gegen Beschimpfungen wie „Geisteskranke“auf Facebook vorzugehen.
Laut einem Beschluss der Berliner Landrichter stellen entsprechende Kommentare „keine Diffamierung der Person der Antragstellerin und damit keine Beleidigungen“dar. Künast kündigte an, gegen diese juristische Sicht der Dinge Beschwerde einzulegen. „Der Beschluss des Landgerichts sendet ein katastrophales Zeichen, insbesondere an alle Frauen im Netz, welchen Umgang Frauen sich dort gefallen lassen sollen“, sagt Künast.
Das sieht auch ihr Parteivorsitzender Robert Habeck so: „Wir wissen inzwischen, dass eine verrohte Sprache den Weg zu realer Gewalt ebnet“, warnt er. Man dürfe nicht zulassen, „dass sie Normalität wird, in unseren Alltag einsickert und das Böse selbstverständlich wird“.
Künast wollte erreichen, dass Facebook die personenbezogenen Daten von 22 Nutzern herausgeben darf. Sie wollte gegen die Urheber der Beschimpfungen zivilrechtliche Schritte einleiten, wie ihr Anwalt Severin Riemenschneider sagt.
Doch laut dem Berliner Gericht handelt es sich um zulässige Meinungsäußerungen. Hintergrund des juristischen Streits ist ein Zeitungsartikel über einen umstrittenen Zwischenruf von Künast aus dem Jahr 1986 im Berliner Abgeordnetenhaus im Zusammenhang mit der damaligen Pädophilie-Debatte bei den Grünen. Ihr wurde unterstellt, sich hinter Forderungen nach Straffreiheit für Sex mit Kindern zu stellen. Dies hatte sie zurückgewiesen.
In einem Artikel der Welt am Sonntag vom Mai 2015 wurde der Zwischenruf zitiert. Demnach sprach eine grüne Abgeordnete im Berliner Landesparlament über häusliche Gewalt. Ein CDU-Abgeordneter stellte die Zwischenfrage, wie die Rednerin zu einem Beschluss der Grünen in NordrheinWestfalen stehe, die Strafandrohung wegen sexuellen Handlungen an solle aufgehoben werden. Künast rief dazwischen: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“Die Welt am Sonntag stellte in dem Artikel die Frage: „Klingt das nicht, als wäre Sex mit Kindern ohne Gewalt okay?“Künast hatte das als Missverständnis zurückgewiesen.
Auch ihr Anwalt betont, mit ihrem damaligen Zwischenruf habe Künast nur die falsche Wiedergabe des NRW-Beschlusses der Grünen richtigstellen wollen. Laut einem Bericht der Berliner Morgenpost nahm der rechte Netzaktivist Sven Liebich in einem mittlerweile gelöschten Beitrag Bezug auf den Zwischenruf und postete den KünastZwischenruf mit einer eigenen Ergänzung: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt.“Die weiteren Kommentare mit den Beschimpfungen posteten User auf Liebichs Seite.
Das Berliner Landgericht beKindern gründete seinen Beschluss auch damit, dass die Öffentlichkeit Künasts Einwurf als Zustimmung zu dem Beschluss der NRW-Grünen wahrgenommen habe. „Von einer Schmähung kann nicht ausgegangen werden, wenn die Äußerung in dem Kontext einer Sachauseinandersetzung steht.“
Künasts Anwalt Riemenschneider sagt, unter den Posts seien „schwerste Beleidigungen, die jedes Maß überschreiten“. Auch Künast stellt die Frage: „Wohin geht die Gesellschaft, wenn all solche Äußerungen als zulässige Meinungsäußerung ertragen und erlitten werden müssen?“Solche massiven Abwertungen gefährdeten die Demokratie. „Denn wer soll sich angesichts dessen noch ehrenamtlich oder politisch engagieren?“
Auch Habeck meint: Die Grenzen des Sagbaren seien schon weit verschoben. „Höchste Zeit, dem entschieden entgegenzutreten.“Selbst wenn das nächstzuständige Kammergericht Berlin den Beschluss aufhebt, heißt das noch nicht, dass Künast gegen die Personen vorgehen kann. Denn Facebook könnte die Daten dann lediglich herausgeben dürfen, muss aber nicht. Um dies aber zu erzwingen, ist eine weitere Klage mit einem aufwendigen Verfahren nötig.