„Der Osten mehrt den Wohlstand des Westens“
Interview Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow will es nicht länger hinnehmen, dass die Ostdeutschen nur über Klischees definiert werden. Die Menschen müssten ernst genommen, ihre Leistung gewürdigt werden
Herr Ramelow, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat den Erfolg der AfD in den neuen Bundesländern auch damit erklärt, dass Ostdeutsche oft nicht gehört, geschweige denn verstanden würden. Ist es wirklich so einfach?
Ramelow: Einfach ist gar nichts, man macht es sich nur oft zu einfach. Damit meine ich ausdrücklich nicht den Bundespräsidenten, den ich als sehr differenziert denkenden und klugen Mann kenne. Mich stört, dass sich die Auseinandersetzung mit der AfD oftmals auf die bloße Empörung über diese Partei und ihre Wähler reduziert. Das ist mir zu wenig, und damit betreibt man im Ergebnis nur das Geschäft der Höckes und Gaulands. Ich möchte den Blick lieber inhaltlich auf die immer noch bestehenden Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen lenken und über gerechte Lösungen debattieren.
Welche Unterschiede meinen Sie? Ramelow: Viele Menschen im Westen unserer Republik dürften noch nie von den gravierenden Ungerechtigkeiten im Rentenrecht gehört haben, unter denen noch heute zahlreiche Frauen in Ostdeutschland leiden. Sie waren in der DDR als sogenannte mithelfende Ehefrauen oder als geschiedene Ehefrauen rentenanspruchsberechtigt, fielen aber im Vereinigungsprozess aus dem System, weil man im Westen solche Kategorien gar nicht kannte. Diese Frauen kämpfen seit 30 Jahren um ihr Recht, doch nichts passiert. Oder nehmen Sie das Beispiel, dass die typische Datsche im Osten einen Quadratmeter größer ist als das Gartenhaus im Westen und deshalb bei dem früheren Erhebungssystem der Rundfunkgebühren wie ein Einfamilienhaus hätte behandelt werden müssen. Daraus entstehen Verletzungen, und wer die als Petitessen abtut, handelt politisch fahrlässig. Das Problem ist dabei gar nicht mal der Einigungsvertrag, niemand ist vor Fehlern gefeit. Aber es verbittert viele Menschen, dass nie ernsthaft versucht wurde, solche damals entstandenen Probleme endlich zu korrigieren.
Früher redeten Politiker gern vom „Jammer-Ossi“, heute wollen nun plötzlich alle den Ostdeutschen zuhören und ihre Lebensleistung würdigen ...
Ramelow: Es würde schon reichen, wenn die Probleme wie die von mir beschriebene krasse Rentenungerechtigkeit endlich praktisch behoben würden. Das steht ja sogar im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Doch bis heute kennen wir keine Summe, die in den dafür vorHärtefallfonds kommen soll. Ebenso wenig ist bekannt, wie die Grundrente umgesetzt wird. Wenn eine Bedürftigkeitsprüfung kommt, wie sie die Union fordert, werden die Ostdeutschen wieder die Gedemütigten sein. Denn dann entscheidet wieder das Einkommen des Partners. Aber es ist ja die Frau, deren Leistungen nicht anerkannt werden. Und stirbt der Partner, steht sie wieder mit der Sozialhilfe da. Umgekehrt wäre es ebenso wichtig, positive Erfahrungen aus Ostdeutschland für ganz Deutschland zu übernehmen. Es würde Vorurteile helfen abzubauen. Die gute Kinderbetreuung wäre so ein Beispiel oder die medizinisch arbeitende Gemeindeschwester.
Glauben Sie wirklich, dass die AfD verschwindet, wenn die von Ihnen genannten Missstände beseitigt sind? Ramelow: Das weiß ich nicht. Die AfD ist ja auch im Westen stark. Ich freue mich ganz sicher nicht über die Wahlergebnisse. Aber ich habe auch keine Lust, den Osten immer nur über die AfD erklärt zu bekommen. Alle neuen Länder über die 25 ProAfD-Wähler zu definieren, ist unredlich und wird der Realität nicht gerecht. Den Ostdeutschen wird ja bis heute – ich spitze zu – gesagt, ihr seid undankbar, ihr seid doof und ihr wählt Mist. Das schmerzt tief. Ich möchte viel lieber über die Leistungen sprechen, die die Menschen hier erbringen. Die Menschen arbeiten hier zwei Stunden pro Woche länger und haben auf der anderen Seite im Schnitt 20 Prozent weniger Lohn. Der Osten mehrt auch den Wohlstand des Westens.
Mehrt der Osten nur den Wohlstand des Westens oder nicht schon auch den eigenen?
Ramelow: Von den 500 führenden Konzernen in Deutschland haben 462 ihren Sitz im Westen. Dort findet dann auch die volkswirtschaftliche Gesamtabrechnung statt. Die Standorte im Osten gehen fast leer aus. Es wäre schön, wenn wir das Steuerrecht so erweitern würden, dass der Wertschöpfungsanteil jeweils der Kommune zugutekommt, in der er erwirtschaftet wird. Daimler hat zum Beispiel sein Motorengesehenen werk hier in Kölleda, jeder dritte Daimler weltweit bekommt seinen Motor aus Thüringen, volkswirtschaftlich gutgeschrieben wird nur der Materialwert. Wir tragen viel zum deutschen Erfolg bei, haben aber fast nichts davon. Jedenfalls ist die Steuerkraft unserer Gemeinden nicht einmal bei 70 Prozent des Durchschnitts.
Ist es 30 Jahre nach der Wende überhaupt noch sinnvoll, ständig von Ossis und Wessis zu reden? Sie selbst passen doch als gebürtiger Niedersachse nach drei Jahrzehnten in Thüringen gar nicht mehr in dieses Schema ... Ramelow: Mein Vater stammt aus Ostdeutschland, aber ich bin ganz klassisch Westdeutscher. Aber ich hatte, wie das Leben so spielt, schon Anfang 1990 den Auftrag von meiner Gewerkschaft bekommen, hier in Thüringen Beratungen durchzuführen. Rückblickend empfinde ich das als großes Glück. Aber ich hatte anfangs viel zu lernen. Es gab Situationen, da habe ich nicht verstanden, wovon die Menschen hier redeten, obwohl wir die gleiche Sprache sprachen. Begriffe hatten völlig unterzent schiedliche Bedeutungen in Ost und West.
Aber sind die Unterschiede heute wirklich noch so stark?
Ramelow: Es gibt die Besonderheiten jedenfalls noch, und sie werden auch an die nächsten Generationen weitergegeben. Auch junge Menschen, die die DDR selber nicht mehr erlebt haben, sagen Plaste statt Plastik, erwerben eine Fahrerlaubnis und keinen Führerschein, bringen ihr Auto zur Durchsicht, nicht zur Inspektion. Und 80 Prozent der Teenager gehen heute noch zur Jugendweihe, das hätte nach der Wende wohl niemand für möglich gehalten.
Wie geht es Ihnen als evangelischer Christ damit, dass diese atheistische Zeremonie noch so beliebt ist? Ramelow: Ich besuche einmal im Jahr eine Jugendweihefeier und halte dort ein Grußwort. Dabei sage ich jedes Mal, dass die Konfirmation ein wichtiges Ereignis in meinem Leben war. Aber ich gehe niemandem mit meinem Glauben auf die Nerven. Die CDU wollte die Jugendweihe aus den Schulen verbannen und hat damit genau das Gegenteil erreicht.
Die Bundesregierung schafft den Soli ab, zumindest für 90 Prozent der Zahler. Halten Sie das für richtig? Ramelow: Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass auch Ostdeutsche den Soli zahlen, was in der Diskussion gerne mal vergessen wird. Wichtig zu wissen ist auch, dass mittlerweile das Geld nur noch zu einem sehr geringen Teil in die neuen Länder fließt und ab 2020 gar nicht mehr. Es wäre deshalb ehrlicher, den Soli ganz abzuschaffen und ihn durch eine Vermögenssteuer zu ersetzen, die zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland verwendet wird. Kriterium für den Erhalt von Hilfe wäre dann nicht die geografische Lage, sondern der Abstand der jeweiligen Region zum bundesweiten Durchschnitt. Armin Laschet hat gesagt, jetzt sei so viel Geld in den Osten geflossen, jetzt müsse mal der Westen dran sein. Der scheinbare Widerspruch ist einfach falsch, denn der Osten hat nicht statt dem Westen Geld bekommen. Die Kohl’sche Politik mit Neoliberalismus und Sparpaketen hat auch im Westen viele Regionen abgehängt. Der Osten wurde dann gestärkt, als die DDR handlungsunfähig war. Jetzt muss es wieder um die Stärkung aller Regionen gehen. Denn es ist zutreffend, dass zum Beispiel Bremerhaven oder Gelsenkirchen auch dringend Unterstützung brauchen.