Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (70)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale.
Die Klausnerin ging mit großen Schritten vor dem Eisengitter ihrer Zelle hin und her, mit flammenden Augen, weit offenen Nasenflügeln, den Kopf in der Luft, wie ein wildes Thier im Käfig, das hungrig des Wärters harrt, der ihm seine Nahrung reichen soll.
VII. Drei Männer verschiedener Art
Phöbus war nicht todt. Leute dieses Schlags haben ein hartes Leben. Als Meister Philipp Lheulier, außerordentlicher Advokat des Königs, der armen Esmeralda gesagt hatte: „er stirbt,“so geschah es wohl aus Irrthum, vielleicht gar aus Scherz. Als der Archidiakonus ihr sagte, „er ist todt,“so wußte er dies zwar nicht, aber er glaubte es, er zweifelte nicht daran, er hoffte es sogar. Es wäre ihm zu schwer gefallen, dem Mädchen, das er liebte, gute Nachrichten von seinem Nebenbuhler zu geben. Jeder Mann hätte wohl an seiner Stelle das Nämliche gethan. Phöbus war zwar sehr verwundet, aber nicht tödtlich, wie der Priester gehofft hatte. Der Apotheker, zu dem ihn die Soldaten der Nachtwache im ersten Augenblicke getragen hatten, fürchtete acht Tage lang für sein Leben, und theilte sogar diese Besorgniß dem Patienten selbst in lateinischer Sprache mit. Gleichwohl gewann die Kraft der Jugend die Oberhand, und die Natur rettete, trotz der medicinischen Voraussagungen, den Kranken, und nahm ihn dem Arzt und dem Tod vor der Nase weg. Während er bei dem Apotheker auf dem Schragen lag, hatte er das erste Verhör des Advokaten des Königs und der Officialen erstanden. Dies hatte ihm viele Langeweile gemacht, und da er sich besser fühlte und ein zweites Verhör fürchtete, so machte er sich heimlich davon und ließ dem Apotheker seine goldene Sporen an Zahlungstatt zurück. Diese Abwesenheit störte übrigens den Gang der Untersuchung nicht. Die damalige Justiz kümmerte sich wenig darum, ob ein Kriminalprozeß pünktlich ausgefegt und aktenmäßig zugestutzt sei. Wenn nur der Angeklagte gehängt wurde, so war die Gerechtigkeit befriedigt. Die Richter glaubten Beweise genug gegen Esmeralda zu haben und fragten nicht darnach, ob Phöbus lebe oder todt sei.
Phöbus seinerseits war nicht weit geflohen.
Er hatte sich bloß zu seiner Compagnie begeben, welche zu Queueen-Brie, einige Posten von Paris, in Besatzung lag. Es gelüstete ihn im mindesten nicht, persönlich in diesem Prozesse aufzutreten. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß er eine lächerliche Rolle darin spielen würde. Im Grunde wußte er selbst nicht, was er eigentlich von der ganzen Sache denken sollte. Unglaubig und abergläubisch zugleich, wie jeder Soldat, der nur Soldat ist, war er mit sich selbst nicht im Reinen über diese Ziege, die Zauberkünste machte, über ihre Herrin, die Esmeralda, die eine Zigeunerin war, und über den räthselhaften Knecht Ruprecht, der eben so schnell verschwunden als erschienen war. Er erblickte in der ganzen Geschichte mehr Hexerei als Wirklichkeit, und hielt das schöne Zigeunermädchen für eine Hexe und den Schwarzmantel für den Teufel selbst. In kurzer Zeit dachte Freund Phöbus nicht mehr an die Zauberin Similar, wie er sie nannte, noch an den Dolchstich, den ihm die Zigeunerin oder (gleichviel) der Knecht Ruprecht beigebracht hatte, und wenig kümmerte ihn der Ausgang des Prozesses. Das Bild der schönen Fleur-deLys zog in sein leeres Herz wieder ein; er stieg daher eines Tages auf sein Roß und ritt Paris zu, in der Hoffnung, daß nach Verlauf von zwei Monaten die alte Geschichte mit der Zigeunerin vergessen sein würde.
Als er auf den Platz der Liebfrauenkirche kam, sah er wohl einen großen Volksauflauf, kümmerte sich aber nichts darum, knüpfte den Zaum seines Pferdes an den Ring in der Mauer und stieg munter die Treppen hinauf zu seiner schönen Braut.
Fleur-de-Lys war allein mit ihrer Mutter. Sie hatte die Scene mit der ägyptischen Hexe, ihrer Ziege und dem verfluchten Alphabet noch nicht vergessen, und die lange Abwesenheit ihres Bräutigams lag ihr schwer auf dem Herzen. Als aber ihr Phöbus eintrat, fand sie ihn so schön, so liebetrunken und so glänzend in seiner neuen Uniform, daß sie freudig erröthete. Das Edelfräulein selbst war reizender als je. Phöbus, der in dem Flecken Queue-enBrie seit zwei Monaten bloß plumpe Bauerndirnen gesehen hatte, ward berauscht vom Anblicke ihrer Schönheit und näherte sich ihr mit einem so leidenschaftlichen Wesen, daß alsbald der Friede ohne vorgängige Präliminarien und nachfolgende Stipulationen abgeschlossen wurde. Das Fräulein sah am Fenster und stickte immer noch an ihrer Grotte des Neptun. Phöbus stand hinter der Lehne ihres Sessels, und sie flüsterte ihm ihre verliebten Vorwürfe zu.
„Böser Mensch, warum habt Ihr Euch denn zwei ganze lange Monate nicht blicken lassen?“
„Ich schwöre Euch,“antwortete Phöbus ausweichend. „Ihr seid so schön, daß Ihr einen Erzbischof zum Narren machen könntet.“
Sie konnte sich nicht enthalten zu lächeln.
„Stille davon, mein Herr! Es ist jetzt nicht von meiner Schönheit die Rede, sondern eine Antwort will ich haben.“
„Je nun, Bäschen, ich bin in meine Garnison beordert worden.“
„Und wohin, wenn es Euch gefällig ist? Und warum habt Ihr nicht Abschied von mir genommen?“„Nach Queue-en-Brie.“Phöbus war sehr erfreut, daß er durch die Antwort auf die erste Frage die Beantwortung der zweiten umgehen konnte.
„Das ist ja gar nicht weit von hier, mein Herr! Warum habt Ihr mich denn in dieser Zeit nicht ein einziges Mal besucht?“
Hier kam unser Phöbus in ernstliche Verlegenheit. „Weil… Der Dienst... Und dann, schönstes Bäschen, war ich krank.“„Krank?“fragte sie bestürzt. „Ja! ... Verwundet.“„Verwundet!“
Das arme Kind war ganz bestürzt.
„Oh! Seid ruhig deßhalb, es hat nichts zu bedeuten,“sagte Phöbus nachlässig. „Ein Streit, ein Säbelhieb, was kümmert Ihr Euch darum?“
„Was ich mich darum kümmere?“rief Fleur-de-Lys, und ihre schönen blauen Augen glänzten in Thränen. „Das könnt Ihr mich unmöglich im Ernste fragen. Was ist es mit diesem Säbelhieb? Ich will Alles wissen.“
„Je nun, Schönste, ich habe ein Hühnchen gepflückt, mit Mahe-Fedy, dem Lieutenant von Saint-Germain-en-Laye; Ihr wißt ja, und wir haben uns etwas Fleisch vom Leibe gehackt. Das ist der ganze Spaß.“
Der Lügner wußte wohl, daß eine ausgefochtene Ehrensache einen Mann in den Augen eines Weibes doppelt männlich erscheinen läßt. Fleur-de-Lys blickte ihn an, ganz ergriffen von Furcht, Vergnügen und Bewunderung.