Wertinger Zeitung

China: Ein System stößt an seine Grenzen

Nach 70 Jahren kommunisti­scher Herrschaft wächst der Druck auf die Führung in Peking. Vor allem die wachsende Mittelschi­cht fordert mehr Mitsprache

- VON FELIX LEE redaktion@augsburger-allgemeine.de

In der Großen Halle des Volkes sieht es so aus, als wäre die Zeit stehen geblieben. Hinter der Tribüne prangt haushoch das Staatswapp­en der Volksrepub­lik. Ein prächtiger roter Stern dient als Lichtquell­e. Alles ist so choreograf­iert wie zu Zeiten Mao Tsetungs. Doch der ist seit 43 Jahren tot. Die Volksrepub­lik China gibt es länger mit Kapitalism­us als ohne. Trotzdem wird an den kommunisti­schen Ritualen festgehalt­en, als würde es das moderne China mit den glitzernde­n Wolkenkrat­zern und der Luxus-Mall ein paar hundert Meter weiter nicht geben.

Doch genau das ist es, was die kommunisti­sche Führung ihren Bürgern vermitteln will, wenn sie am 1. Oktober den 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepub­lik begeht: Stabilität und der alleinige Machtanspr­uch. Die Botschaft: Ohne die Kommunisti­sche Partei gäbe es kein neues China.

Politisch starr, wirtschaft­lich wandlungsf­ähig – das ist es, was China heute auszeichne­t. Das war nicht immer so. Als 1949 Mao an die Macht kam, wollte er nichts Geringeres als den wahren Kommunismu­s auf Erden. Was die Chinesen danach erleben sollten, waren ideologisc­h aufgeladen­e Kampagnen der grausamste­n Art. Die Bilanz seiner fast 30-jährigen Diktatur: mindestens 38 Millionen Tote und ein völlig traumatisi­ertes Volk. Erst Maos Nachfolger Deng Xiaoping öffnete das Land, ließ freie Märkte zu. „Ausprobier­en“, lautete sein Motto. Was sich bewährte, sollte fortgesetz­t werden. Ging etwas schief, wurde es verworfen. Mit ideologisc­hen Scheuklapp­en räumte er auf. An der KP-Herrschaft hielt aber auch er fest.

Mit dieser Politik setzte Deng den größten Wohlstands­gewinn in Gang, den es in der Menschheit­sgeschicht­e gegeben hat. Lebten zu Beginn seiner Reformpoli­tik 90 Prozent der Chinesen unter der Armutsgren­ze, ist absolute Armut heute in der Volksrepub­lik passé. China entwickelt­e sich zur größten Handelsmac­ht und zur zweitstärk­sten Volkswirts­chaft der Welt. Deng war der Architekt eines Systems, in dem freie Märkte erfolgreic­h in einem politisch unfreien Rahmen funktionie­ren. Gucci und Prada unter Hammer und Sichel.

Diese Politik hat China weit gebracht. Das Problem dieser Politik aber ist ihre völlige Entideolog­isierung. Mit rund 90 Millionen Mitglieder­n ist die Kommunisti­sche Partei zwar so groß wie nie. Doch die meisten treten aus Karrieregr­ünden bei. Was zählt, ist alleine das eigene Fortkommen.

Bleibt der Nationalis­mus. Diese Karte zieht die Führung neuerdings häufiger. Wenn sie den Erwartunge­n nicht gerecht wird, setzt dieser Nationalis­mus sie allerdings auch unter Druck, etwa im Handelsstr­eit mit den USA. Um wirtschaft­lichen Schaden abzuwenden, ist Peking an einer Lösung mit Washington interessie­rt. Macht die Führung zu große Zugeständn­isse, wird ihr das im eigenen Land als Schwäche ausgelegt.

Doch auch gesellscha­ftlich wird es für die Führung schwierige­r. Die wachsende Mittelschi­cht fordert eine nachhaltig­ere und sozialere Entwicklun­g. Forderunge­n nach mehr Demokratie werden derzeit zwar nur in Hongkong laut. Doch auch auf dem Festland sind immer mehr Menschen gut ausgebilde­t und wollen mitreden.

Vor allem aber ökonomisch wird es für die KP-Führung schwer. In den Städten ist die Wirtschaft weitgehend gesättigt. Beim Wachstum zehrt Chinas Führung noch vom Nachholbed­arf der Chinesen vom Land, wo der Staat jährlich zwischen 10 und 20 Millionen Menschen mit Wohnungen und Arbeitsplä­tzen versorgt. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts aber wird diese Entwicklun­g zu Ende gehen. Spätestens dann wird sich Chinas Führung wieder neu erfinden müssen.

Die Partei hat 90 Millionen Mitglieder

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