Wertinger Zeitung

„Man liebt sich nicht mehr genug“

Interview Jean-Claude Juncker hat erlebt, wie Europa zusammenge­wachsen ist – und wie sich die Menschen in der EU gerade wieder voneinande­r entfernen. Ein Gespräch über Erfolge, verpasste Chancen und das Leben nach der Politik

- Interview: Detlef Drewes

Sie haben in wechselnde­n politische­n Ämtern die Europäisch­e Union wie kein anderer erlebt und geprägt. Kann man mit dem, was bis heute erreicht wurde, zufrieden sein?

Juncker: Es ist uns gelungen, europäisch­e Geschichte und europäisch­e Geografie wieder zusammenzu­bringen. Das habe ich Anfang der 80er Jahre als junger Minister nicht für möglich gehalten. Denn nach dem Krieg gab es ein Dekret, das Europas dauerhafte Trennung festschrei­ben sollte. Dennoch ist es gelungen, die Geschichte zu ändern, Menschen wieder zu vereinen – und zwar mit friedliche­n Mitteln. Es ist eine glückliche Fügung der Zeitgeschi­chte.

Man hat nicht oft das Gefühl, dass die Mitgliedst­aaten heute diese Errungensc­haften noch im Blick haben. Juncker: Die Gegensätze sind, wenn sie ausgetrage­n werden, schroffer geworden. Man liebt sich nicht mehr genug in Europa. Hinzu kommt, dass sich das Verständni­s und das Wissen übereinand­er nicht wirklich entwickelt haben. Es stimmt eben nicht, dass wir alles vom anderen wissen. Was wissen die Sizilianer über die Nordlappen? Oder die Nordlappen über die Bretonen? Sehr wenig.

Ist es die Aufgabe der EU-Kommission, trotzdem alle zusammenzu­führen? Juncker: Das haben wir getan – oder wenigstens versucht. Aber es ist schwerer geworden in einer Union, in der das Verständni­s füreinande­r nicht wirklich groß ist.

Was war für Sie der Höhepunkt der vergangene­n fünf Jahre als Kommission­spräsident?

Juncker: Ich bin stolz auf unsere sozio-ökonomisch­e Bilanz – die ich mir nicht alleine zuschreibe. Dass wir die Arbeitslos­igkeit senken konnten ist ein Erfolg. Die Arbeitslos­enquote ging von 10,6 auf 6,3 Prozent zurück. Das ist besser als noch vor der Finanzkris­e. Die Beschäftig­ungsquote beträgt heute 73,8 Prozent. Das waren 2009 noch 69,4 Prozent. 241,4 Millionen Europäer haben einen Job – das sind so viele wie nie zuvor. Die Haushaltsl­age hat sich wesentlich verbessert – das Defizit beträgt heute im Schnitt nicht mehr 6,9 Prozent, sondern 0,5 Prozent. Dies sind Zahlen, die viel über den ökonomisch­en Erfolg unserer Arbeit aussagen. Und dazu hat, das möchte ich hinzufügen dürfen, auch der Investitio­nsplan, den alle nur „Juncker-Plan“nennen, erheblich beigetrage­n.

Was haben Sie nicht geschafft? Juncker: Ich bin traurig darüber, dass wir die Wiedervere­inigung Zyperns nicht hingekrieg­t haben. Den zyprischen Freunden habe ich gesagt: Ihr findet vermutlich nicht noch einmal jemanden, der sich so um euch bemüht. Und ich bin auch enttäuscht, dass es trotz großer Bemühungen nicht gelungen ist, den Rahmenvert­rag mit der Schweiz zu einem guten Ende zu bringen. Den Schweizern habe ich gesagt: Ihr werdet einen derartigen Freund eures Landes nicht mehr finden.

Aus einer neuen Eurobarome­ter-Untersuchu­ng über die Europawahl geht hervor, dass die höhere Wahlbeteil­igung zu einem wesentlich­en Teil auf die große Zustimmung jüngerer Menschen zurückgeht. Welcher Auftrag ergibt sich daraus?

Juncker: Ich führe diese große Beteiligun­g junger Menschen auf das Klima-Thema zurück. Junge Menschen leben zukunftsor­ientiert. Sie spüren sehr aufmerksam, wenn DinHandels­verträge, ge beginnen, auseinande­rzufallen. Der Brexit ist so ein Ereignis. Und die Jugend merkt sofort, dass sich ihre Zukunftspe­rspektive besorgnise­rregend verändert. Deshalb sind Klima und Brexit für sie zwei zentrale Herausford­erungen.

Diese jungen Menschen um die KlimaAktiv­istin Greta Thunberg stellen der Politik ja gerade miserable Zeugnisse aus. Wie wollen Sie diese Generation wieder einbinden?

Juncker: Politik muss tun, was sie verspricht. Das ist der Weg und zugleich das größte Problem. Weil es eben manchmal schwierig ist, die Träume, die man zugesagt hat, umzusetzen. Junge Menschen sind ungeduldig. Dieser Druck tut den Älteren gut.

Wie bewerten Sie das deutsche Klimaschut­zpaket?

Juncker: Es ist auf dem richtigen Weg. Aber es ist ja auch noch nicht vollständi­g angenommen worden. Die letzte Verantwort­ung liegt dafür bei der deutschen Politik.

Der Brexit rückt unaufhörli­ch näher. Glauben Sie noch an einen Deal? Juncker: Wir arbeiten intensiv an einem Deal. Denn ein Ausstieg der Briten aus der EU ohne Abkommen wäre eine Katastroph­e für das Vereinigte Königreich und für den europäisch­en Kontinent. Unser Chefunterh­ändler Michel Barnier und ich tun alles, damit es zu einer Vereinbaru­ng kommt. Wenn das am Ende nicht gelingt, liegt die Verantwort­ung dafür alleine auf der britischen Seite.

Was würde ein No-Deal für die ja erst noch anstehende­n Verhandlun­gen über ein Freihandel­sabkommen mit dem Vereinigte­n Königreich bedeuten? Juncker: Wir werden ein Freihandel­sabkommen abschließe­n wollen und müssen. Das geht aber nicht Hoppla-Hopp, wie sich das einige in Großbritan­nien vorstellen. Die die wir in meiner Amtszeit abgeschlos­sen haben, zeigen dies. Diese Vereinbaru­ngen haben zum Teil viele Jahre Zeit gekostet. Es ist nicht erkennbar, warum das mit Großbritan­nien schneller gehen könnte. Solche Verhandlun­gen mit London sind nicht schwierige­r, aber komplizier­ter. Denn bei den anderen Partnern ging es darum, sich aufeinande­r zuzubewege­n. Im Falle Großbritan­niens geht es hingegen um eine Trennung.

Welche Rolle muss Deutschlan­d in den nächsten Jahren in Europa einnehmen? Juncker: Es wäre sehr dienlich, wenn Deutschlan­d zusammen mit der Europäisch­en Kommission alles tun würde, um diese Gemeinscha­ft zusammenzu­halten. Denn wenn das größte Land mit vielen Nachbarn nicht einen deutlich proeuropäi­schen Kurs steuert, ist das fatal. Der Bundesrepu­blik wird in Europa immer eine natürliche Schlüsselr­olle zufallen – nicht alleine, sondern zusammen mit anderen großen Playern. Das hat Ihr Land übrigens auch in der Vergangenh­eit getan: Deutschlan­d ist mit Abstand das proeuropäi­schste Land in der EU.

„Wer an Europa zweifelt, sollte öfter Soldatenfr­iedhöfe besuchen.“Dieser Satz von Ihnen steht für viele über dem europäisch­en Projekt. Gilt er immer noch?

Juncker: Ich habe diesen Satz gesagt, als ich als erster luxemburgi­scher Ministerpr­äsident den deutschen Soldatenfr­iedhof in meinem Heimatland besucht habe. Ja, dieser Satz ist unveränder­t aktuell. Europa bleibt ein Friedenspr­ojekt. Wer das vergisst, begeht einen schweren historisch­en Fehler. Deshalb rede ich weiter über den Krieg, seine Opfer und das, was uns Frieden gebracht hat. Die jungen Menschen verstehen das.

Sie haben ein ganzes Leben lang Politik gemacht. Was macht Jean-Claude Juncker nach dem Ende seiner Amtszeit hier in Brüssel?

Juncker: Politik. Aber auf eine andere Weise. Keine Ämter mehr, aber ich werde schreiben und reden – über den großen Friedenstr­aum Europa. ⓘ

Jean-Claude Juncker stammt aus Luxemburg. Mit gerade mal 27 Jahren wurde der Jurist und Christdemo­krat Sozialmini­ster seines Landes. 1995 übernahm er das Amt des Premiermin­isters – zeitweise parallel zu einem Job als Finanzmini­ster. Der heute 64-Jährige leitete die Euro-Gruppe und wurde 2014 Präsident der Europäisch­en Kommission.

 ?? Foto: Fabio Cimaglia, dpa ?? Jean-Claude Juncker galt schon als „Mister Europa“, bevor er vor fünf Jahren an die Spitze der EU-Kommission gewählt wurde. Seine Amtszeit endet am 1. November.
Foto: Fabio Cimaglia, dpa Jean-Claude Juncker galt schon als „Mister Europa“, bevor er vor fünf Jahren an die Spitze der EU-Kommission gewählt wurde. Seine Amtszeit endet am 1. November.

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