Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (73)
Sie fühlte ihr Blut in den Kopf steigen, und ein Ueberrest von Unwillen entzündete sich in dieser schon halb-leblosen Seele.
Der Archidiakonus näherte sich ihr langsam und fragte sie mit lauter Stimme: „Weib, hast Du Gott um Verzeihung angefleht für Deine Fehler und Sünden?“
Hierauf beugte er sich zu ihrem Ohr herab, als ob er ihre letzte Beichte empfangen wollte, und sagte leise: „Willst Du mich? Es steht noch immer in meiner Macht, Dich zu retten!“
Sie sah ihm starr in’s Gesicht: „Fort, Teufel der Hölle! Oder ich gebe Dich an.“
Der Priester verzerrte sein Gesicht zu einem furchtbaren Lachen: „Man wird Dir nicht glauben! Geschwind, willst Du mich oder nicht?“
„Was hast Du mit meinem Phöbus gemacht?“
„Er ist todt!“erwiederte der Priester.
In diesem Augenblicke erhob er mechanisch das Haupt und sah den Todtgeglaubten in voller Lebenskraft neben Fleur-de-Lys auf dem Balkon stehen. Er schwankte, fuhr mit der Hand über die Augen, blickte wieder hin und murmelte eine Verwünschung.
„So sei es denn! Stirb! Niemand soll Dich haben!“
So sprach der Priester leise, dann erhob er seine Stimme, reckte die Hand gegen das Schlachtopfer aus und sprach laut und feierlich : „I nune anima anceps, et sit tibi Deus misericors!“
Dies war die furchtbare Formel, mit welcher man diese düstern Ceremonien der Kirche zu schließen pflegte: Das Volk kniete nieder.
„Kyrie eleison!“sprachen die Priester.
„Kyrie eleison!“betete die Menge nach.
„Amen!“sagte der Archidiakonus. Mit diesen Worten kehrte er der Verurtheilten den Rücken; er faltete die Hände, ließ das Haupt fromm auf die Brust herabsinken und kehrte zur Prozession der Priester zurück. Bald verschwand er mit seinem Zuge in den düstern Hallen der Kirche, und allmählig erlosch seine volltönende Stimme, welche die Worte der Verzweiflung sang!
„Omnes gurgites tui et fluctus tui super me transierunt!“
Die Thüren der Liebfrauenkirche waren offen geblieben, und man konnte in ihren düsteren Schlund blicken, der von keiner Kerze beleuchtet, von keiner menschlichen Stimme belebt war.
Die Verurtheilte blieb unbeweglich an ihrem Platze stehen, stumpfsinnig erwartend, was jetzt mit ihr geschehen würde. Zwei Henkersknechte, gelb gekleidet, näherten sich ihr, um ihr die Hände wieder auf den Rücken zu binden.
Bevor sie den Karren bestieg, um nun zum Richtplatze geführt zu werden, ergriff sie ein Schauder des Todes. Sie hob die thränenlosen Augen zum Himmel, zur Sonne, zu den Wolken empor, dann blickte sie um sich, auf die Menschen, auf die Häufer umher. Da stieß sie plötzlich einen Freudenschrei aus, sie hatte das Licht ihres Lebens, ihren Phöbus, auf dem Balkon erblickt. Der Richter hatte gelogen, der Priester hatte gelogen. Da stand er in voller Lebensfülle, in seiner stattlichen Kleidung, mit wehender Feder, das Schwert an der Seite.
„Phöbus!“schrie sie laut auf, „mein Phöbus!“
Sie wollte die Hände zu ihm erheben, aber sie waren gebunden. Jetzt sah sie ihn die Stirne runzeln, sah, wie ihn das schöne Mädchen, das neben ihm stand, mit zornigen Blicken betrachtete, sah dann, wie beide schnell vom Balkon verschwanden und die Thüre hinter sich schloßen.
„Phöbus!“rief sie verzweifelnd, „glaubst Du es denn?“In diesem Augenblicke schwebte ihr ein furchtbarer Gedanke vor; sie erinnerte sich, daß sie wegen begangenen Meuchelmords an der Person des Hauptmanns Phöbus de Chateaupers verurtheilt worden sei. Bis jetzt hatte sie Alles erduldet, aber dieser letzte Schlag war zu hart; sie fiel besinnungslos auf das Pflaster nieder.
„Tragt sie auf den Karren, damit das Ding zu Ende geht!“sprach Meister Jakob Charmolue zu den Henkersknechten. Auf der Galerie oberhalb des großen Eingangs saß ein seltsamer Zuschauer dieses ganzen Auftritts, den bis jetzt noch Niemand beachtet hatte. Gleich beim ersten Anfang befestigte er einen langen Strick an einer der Säulen, so daß dessen Ende bis aus das Pflaster hinabging. Hierauf setzte er sich ruhig nieder, pfiff von Zeit zu Zeit und sah zu. Es war Quasimodo, der Glöckner. Jetzt, als eben die Henkersknechte die Verurtheilte auf den Karren tragen wollten, ergriff er den Strick mit beiden Händen, fuhr wie ein Blitz daran hinunter, stürzte wie ein Tiger auf die Henkersknechte los, schlug sie mit seinen beiden gewaltigen Fäusten zu Boden, ergriff die Verurtheilte, schwang sie hoch über sein Haupt empor, lief der Kirche zu und rief mit einer Donnerstimme: „Asyl! Asyl!“
„Asyl! Asyl!“wiederholte jubelnd die Menge, und viel tausend Hände klatschten ihm Beifall. Quasimodo’s einziges Auge strahlte vor Stolz und Freude.
Diese Erschütterung brachte das unglückliche Wesen wieder zu sich. Sie öffnete die Augen, betrachtete Quasimodo, und schloß sie dann wieder, gleichsam erschreckt von dem Anblick ihres Retters.
Richter und Henker waren erstarrt. Die Liebfrauenkirche war ein Asyl, und die Verurtheilte, einmal in ihrem Schooße, war unverletzlich. Keine menschliche Justiz durfte die heilige Stätte überschreiten.
Quasimodo, der häßliche Zwerg, stand auf der Schwelle der Kirche, das reizende Geschöpf, das er dem Tod entrissen hatte, in seinen Armen haltend. Der Gnom blickte zu ihr hinab, und sein einziges Auge übergoß sie mit einem Strome von Zärtlichkeit, Schmerz und Mitleid. Dann erhob er es wieder, strahlend und triumphirend, zu der jubelnden Menge umher. Der Enthusiasmus des Volkes war auf das Höchste gestiegen. Quasimodo, der Bucklige, war sein Held geworden. Er stand wirklich als ein Held da, auf der Schwelle der Kirche. Dieser Waise, dieses Findelkind, dieser Auswurf der menschlichen Gesellschaft, er stand kräftig und erhaben da, der Staatsgesellschaft, die ihn ausgestoßen, der menschlichen Gerechtigkeit, der er ihr Opfer geraubt, der königlichen Gewalt selbst, der er die höhere Gewalt Gottes entgegenstellte, in’s Angesicht trotzend.
Einige Minuten lang genoß der Zwerg seines Triumphs, dann stürzte er mit seiner geliebten Last in die Kirche. Der Beifall der Menge donnerte ihm nach. Alle suchten ihn mit den Augen. Bald erschien er wieder auf der Galerie oberhalb des Eingangs, während er die Gerettete schwebend über seinem Haupte trug und mit lauter Stimme rief: „Asyl! Asyl!“
„Asyl! Asyl! wiederholte jubelnd das Volk.
Zum zweitenmal zeigte sich der Zwerg auf der obern Plattform, das Mädchen im Arme, laufend mit der Eile eines Raubthiers, das seine Beute in Sicherheit bringt, und unter dem jubelnden Ruf: „Asyl! Asyl!“