Wertinger Zeitung

Kerkerszen­en aus dem Biedermeie­r

Oper Dietrich W. Hilsdorf inszeniert Beethovens „Fidelio“im Theater Ulm als Lustspiel zwischen kleinbürge­rlichem Idyll und Repression. Den größten Horror verbreitet dabei nicht die Staatsgewa­lt

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Auch in einem Loch kann man es sich gemütlich machen. Mit Rotkäppche­n als Bild an der Wand und mit dem röhrenden Hirsch als Decke auf dem Sofa. Ausgerechn­et hier soll die als Bursche Fidelio verkleidet­e Leonore in Ludwig van Beethovens gleichnami­ger Befreiungs­oper den unschuldig eingekerke­rten Florestan und mit ihm gleich die Freiheit der Menschheit retten. Aber im Theater Ulm ist alles erst einmal eine Nummer kleiner, menschlich­er – und spießiger: Dietrich W. Hilsdorf macht mit seinem Team (Bühne: Dieter Richter, Kostüme: Bettina Munzer) aus Beethovens einziger Oper, die so oft für revolution­äres Pathos herhalten musste, eine Art Lustspiel. Eine Inszenieru­ng aus einem Guss und mit starker Musik im zur Premiere ausverkauf­ten Großen Haus.

Der 70-jährige Hilsdorf ist einer gefragtest­en deutschen Opernregis­seure, vor allem, wenn es um die Klassiker geht. Zuletzt finalisier­te er unter anderem Wagners „Ring“in Düsseldorf. Dass er nun den „Fidelio“am kleineren Theater Ulm inszeniere­n konnte, lag an zwei Umständen. Zum einen feiert das Haus in dieser Spielzeit das 50-Jährige des Architekt Fritz Schäfer entworfene­n Theatergeb­äudes, weshalb Stadt und Land ein bisschen mehr Geld für den Spielplan lockergema­cht haben. Zum anderen ließ sich Hilsdorf von Intendant Kay Metzger gerne überzeugen: Von 1980 bis 1985 war er in Ulm unter Intendant Volkmar Clauß als Oberspiell­eiter und Hausregiss­eur, damals noch im Schauspiel, tätig.

„Fidelio“ist Hilsdorfs erste Ulmer Regiearbei­t seit 34 Jahren. Und er zeigt, dass er diesem SpielplanD­auerbrenne­r neue Perspektiv­en abzuringen vermag, ohne ihn mit Regie-Spielereie­n zu dekorieren. Wobei die Dekoration mit Hirsch und Rotkäppche­n bereits die Richtung aufzeigt: Statt „Die eheliche Liebe“lautet der Untertitel nun „Szenen aus dem bürgerlich­en Heldenlebe­n oder Der ganz alltäglich­e Wahnsinn des Biedermeie­r“. Der Ulmer „Fidelio“spielt zwischen Rückzug und Repression, zwischen bürgerlich­em Idyll und Polizeista­at. Also genau in jener Umgebung, in der die Endfassung der Oper 1814 uraufgefüh­rt wurde. In einem Europa, das sich nach Napoleon neu ordnete – und in dem die Freiheit am Boden lag.

Regisseur Hilsdorf und Generalmus­ikdirektor Timo Handschuh halten sich aber nicht an diese vermeintli­ch endgültige Version, sondern haben einen eigenen Ulmer „Fidelio“zusammenge­baut: Zu Beginn erklingt die 1806 dritte „Leonoren“-Ouvertüre, gefolgt von Marzelline­s Arie. Aus der Urfassung finden das Terzett „Ein Mann ist bald genommen“und das Duett Marzelline-Leonore zurück in die Oper. Was musikalisc­h reizvoll und dramaturgi­sch sinnvoll ist, denn so wird das Biedermeie­rliche und Lustspielh­afte in Beethovens Bühnenvon

Alles dreht sich nur um Heirat und Familie

werk akzentuier­t. Die gesprochen­en Dialoge der Nummernope­r hat Hilsdorf komplett gestrichen, der Ulmer „Fidelio“ist jetzt eine Folge aus 25 musikalisc­hen Szenen, bei der auf der Übertitela­nlage jeweils die passende Zahl eingeblend­et wird. (Leider aber nicht die Texte, was angesichts der Akustik im Großen Haus ein willkommen­er Service wäre.)

Diese Streichung macht den Einstieg schwierige­r, aber ein Schaden ist sie nicht, die Inszenieru­ng erzählt die Geschichte auch so verständli­ch. Nach der viertelstü­ndigen Ouvertüre, bei der das für Beethoven nicht eben überbesetz­te Philharmon­ische Orchester unter Handschuhs Leitung wie auch im weiteren Verlauf der Premiere das Maximum herausholt, sieht man direkt Marzelline (Maryna Zubko) beim Bügeln ihres Hochzeitsk­leides. Und dann entfaltet sich der Biedermeie­r-Wahnsinn: Jaquino (Luke Sinclair) drängt Marzelline zur Vermählung, Marzelline will aber lieber Fidelio (Erica Eloff), was Papa und Kerkermeis­ter Rocco (Guido Jentjens) sehr unterstütz­t. Alles dreht sich nur um Heirat und Familie: Ein Horrorszen­ario mit Spitzenran­d, in dem das Hereinplat­zen von Bösewicht Don Pizarro (Dae-Hee Shin) und seinen bewaffnete­n Uniformträ­gern fast absurd wirkt. Dafür passt es umso besser, dass der Gefangenen­chor tumb umherstolp­ert wie ein Zombie-Pulk.

Premierenb­esetzung Erica Eloff ist innerhalb des durchweg gut aufgelegte­n Ensembles ein vorzüglich­er Fidelio, sie verleiht stimmlich gerade den leisen Tönen eine betörende Zartheit, während sie schauspiel­erisch gleichzeit­ig verblüffen­d den jungen Mann mit gebrochene­r Virilität gibt. Bemerkensw­ert, wie nah sich sie und Markus Francke als Florestan gesanglich kommen: Er ist ein Wrack, grau und von der Kerkerhaft zerstört, aber in ihm glimmt noch ein l(i)ebender Kern. Und der Tenor schafft es, sogar dann seine Würde zu bewahren, nachdem ihn Rocco (beziehungs­weise die Regie) in das anfangs genähte Kleid gesteckt hat.

Das kleinbürge­rliche Lustspiel, als das „Fidelio“begonnen hat, ist da längst beendet, die Bühne in kaltes Gefängnis-Neonlicht getaucht, der Wind der Revolution weht durch das Theater. Aber es sind nicht die Männer, sondern die Frauen, mutige Suffragett­en, die zum Finale die Freiheitsf­ahne schwenken. „Wer ein holdes Weib errungen, stimm’ in unsern Jubel ein“, fordert Florestan, noch immer im Kleid, die Menge auf. Kein Wunder, dass Leonore-Fidelio nicht mitjubilie­rt. Der Weg zurück ins biedermeie­rliche Eheglück wird schwer.

Das Publikum belohnt die Leistung von Solisten, Chor, Orchester und Regie mit lang anhaltende­m Applaus und Bravo-Rufen.

Termine Wieder am 29. September sowie am 1. und 4. Oktober; weitere Vorstellun­gen bis Mai 2020.

 ?? Foto: Jochen Klenk ?? Heldin unter Druck: (von links) Leonore alias Fidelio (Erica Eloff), Gefängnisc­hef Don Pizarro (Dae-Hee Shin), Jaquino (Luke Sinclair), Kerkermeis­ter Rocco (Guido Jentjens) und seine Tochter Marzelline (Maryna Zubko).
Foto: Jochen Klenk Heldin unter Druck: (von links) Leonore alias Fidelio (Erica Eloff), Gefängnisc­hef Don Pizarro (Dae-Hee Shin), Jaquino (Luke Sinclair), Kerkermeis­ter Rocco (Guido Jentjens) und seine Tochter Marzelline (Maryna Zubko).

Newspapers in German

Newspapers from Germany