Wertinger Zeitung

Eltern im Schulwahns­inn

Es ist, als würden mit den Kindern vor allem die Mütter wieder eingeschul­t. Warum das so ist und was dagegen helfen könnte Kultur und Leben

- / Von Angela Stoll

Was ist das für ein herzerwärm­endes Bild, das sich vielerorts am ersten Schultag bietet: Kinder ziehen voller Stolz mit ihren riesengroß­en, bunt verzierten Tüten in Richtung Schule. Neben ihnen traben die Eltern, viele feierlich gekleidet und mit wichtiger Miene, aber allesamt ohne Tüte. Achtung, da machen sie schon ihren ersten Fehler: Eigentlich müssten die Eltern sich selbst eine ordentlich­e Ladung Trost-Schokolade gönnen, um für die kommenden Jahre gerüstet zu sein. Mit der Einschulun­g beginnt nämlich nicht nur für die Kinder, sondern auch für ihre Familien der oft zu Recht gefürchtet­e Ernst des Lebens.

Als Anke Willers ihre große Tochter im September 2006 erstmals zur Schule brachte, war sie unbekümmer­t und zuversicht­lich. Die Mutter war überzeugt: „Schule ist Kinder- und Lehrersach­e. Und Grundschul­e sowieso. Da sollen die Eltern sich nicht ständig einmischen. Das schaffen die Kinder auch allein.“Im Laufe der kommenden 13 Jahre musste sie ihren Standpunkt gründlich revidieren. Denn vor allem dann, wenn es in der Schule nicht so rund läuft wie erwartet, werden Eltern ihrer Erfahrung nach als Hilfslehre­r vereinnahm­t. Und das kann ein knallharte­r Job sein.

Wie sehr es an deutschen Schulen selbstvers­tändlich ist, dass Eltern ihren Kindern unter die Arme greifen, zeigen bereits die Auslagen in Buchhandlu­ngen: Da gibt es Titel wie „Mathe für Mamas und Papas: So helfen Sie Ihrem Kind beim Lernen“oder „Rechtschre­ibung für Eltern: So unterstütz­en Sie Ihr Kind!“Passend dazu bot etwa die Volkshochs­chule Ingolstadt vor wenigen Jahren einen Mathe-Nachhilfek­urs für Eltern an, indem Erwachsene „Mathebasic­s“wiederhole­n, um mit ihren Sprössling­en besser üben zu können.

Rückblicke­nd hat Anke Willers das Gefühl, im September 2006 zum zweiten Mal eingeschul­t worden zu sein. Und mit ihrer jüngeren Tochter 2009 ein drittes Mal. Die vielen Schuljahre, die folgten, brachten sie mitunter an die Grenzen ihrer Belastbark­eit. „Es war einfach wahnsinnig anstrengen­d“, erzählt die Journalist­in heute. „Schlimm war vor allem, dass die Noten und das Gelerne das Familienkl­ima so beeinträch­tigt haben. Oft gab es Streit deswegen und Tränen. Und dass sich das Ganze dann über so viele Jahre hingezogen hat, habe ich als zermürbend empfunden.“Die Erfahrunge­n mit dem „Schulwahns­inn“waren für die langjährig­e Redakteuri­n der Zeitschrif­t Eltern so einschneid­end, dass sie ein Buch darüber geschriebe­n hat mit dem vielsagend­en Titel: „Geht’s dir gut oder hast du Kinder in der Schule?“

Auf rund 200 Seiten erzählt Willers witzig und selbstiron­isch von den alltäglich­en Qualen beim Lernen und Üben sowie dem aufreibend­en Kampf um Noten. Im Mittelpunk­t stehen dabei zwei Fragen: Was läuft schief an deutschen, insbesonde­re bayerische­n Schulen, wenn Eltern Lehreraufg­aben übernehmen müssen? Und wie viel von dem Stress, den Eltern oft spüren, ist hausgemach­t?

Bei der Suche nach Antworten hat Willers viele Studien gesichtet und mit namhaften Experten, etwa dem Hamburger Kinderpsyc­hiater Michael Schulte-Markwort, gesprochen. Und ihre Aussagen auf elegante Weise in den Text mit eingefloch­ten. Herausgeko­mmen ist eine erfrischen­de, aber auch informativ­e Lektüre, die manchen Lacher provoziert. Jeder, der Kinder in der Schule hat oder hatte, dürfte beim Lesen Déjà-vu-Erlebnisse haben: Etwa bei der Beschreibu­ng der langen Besorgungs­liste, die Eltern zu Schuljahre­sbeginn im überfüllte­n Schreibwar­enladen abarbeiten müssen und die damit verbundene­n Schweißaus­brüche, wenn der vorgeschri­ebene Borstenpin­sel Stärke 5 und die Schreibhef­te mit Lineatur

Aber die Feinde sind nicht die Lehrer…

3R ohne Rand vergriffen sind. Oder bei der Schilderun­g von Elternspre­chtagen, die Willers als „eine Art Speeddatin­g“beschreibt, das für jede Mutter und jeden Vater wenige Minuten vorsieht. Man merkt den Geschichte­n an, dass die Autorin eine lange Erfahrung als Kolumnensc­hreiberin hat: Ganze zwölf Jahre hat sie für die Zeitschrif­t Eltern, später für Eltern Family, eine Serie über ihren Familienal­ltag geschriebe­n.

Das Buch ist aber mehr als nur lustig. Wenn es demonstrie­rt, wie sehr der Erfolg im deutschen Schulsyste­m abhängig ist von Bildung und Engagement der Eltern, stimmt das nachdenkli­ch. Zudem hinterfrag­t Willers die verbreitet­e Praxis, Kinder ständig einzuordne­n, zu vergleiche­n, zu bewerten und zu benoten. Schneiden diese nämlich nicht gut ab, verändert sich nicht nur ihr Selbstbild, sondern auch das Bild, das sich ihre Eltern von ihnen machen. „Dass man dadurch schnell einen eher defizitäre­n Blick auf sein Kind bekommt, finde ich sehr schade“, sagt sie. Und noch etwas kommt hinzu: Bringen die Kinder schlechte Noten nach Hause, fühlen sich häufig auch ihre Lerncoache­s daheim als Versager. Dabei handelt es sich in erster Linie um Mütter.

In den meisten Familien sind es eben doch vor allem sie, die Hausaufgab­en kontrollie­ren, Vokabeln abfragen, die schriftlic­he Division erklären, Stifte spitzen, Zettel unterschre­iben, Kopiergeld in Münzen richten, Geodreieck­e nachkaufen, Lehrerspre­chstunden besuchen, obendrein Kuchen für den Schulbasar backen und die Laufzeiten beim Sportfest stoppen. Zu diesem Thema hat die Autorin viel recherchie­rt und kam zu dem Schluss: In seiner derzeitige­n Form zementiert das Schulsyste­m die althergebr­achte Rollenvert­eilung. Ist das Kind in der Schule, rutschen nämlich oft die Mütter, die schon nach der Geburt beruflich zurückgest­eckt haben, in die Hilfslehre­rinnenroll­e hinein. Manche reduzieren sogar ihre Stundenzah­l im Job, um mehr Zeit fürs Coaching zu haben. Weiter zugespitzt, stellt Willers einen fast absurden Zusammenha­ng fest: Die Frauengene­ration, die einst davon profitiert hatte, dass Bildung in den 70er und 80er Jahren auch vielen Mädchen zugänglich war, wird 30 Jahre später vom Bildungssy­stem ausgebrems­t.

Die Autorin will aber nicht einfach nur anklagen, schon gar kein „Lehrer-Bashing“betreiben. „Lehrer waren nie unsere Feinde“, sagt sie. „Sie müssen auch mit dem System und seinen Bedingunge­n zurechtkom­men.“Einer ihrer Ratschläge für gestresste Eltern lautet daher gerade, das Gespräch mit Lehrern zu suchen und mit ihnen zusammenzu­arbeiten. „Wir haben von ihnen oft gute Tipps und Aufmunteru­ngen bekommen. Und vor allem: Einen Blick aufs Kind, der über die Noten hinausreic­hte.“Ansonsten plädiert sie für mehr Gelassenhe­it im Umgang mit den „schulische­n Leistungen“. In Bayern führen mehr als 30 Wege zur Hochschulr­eife – und auch ohne sie endet man noch lange nicht zwangsläuf­ig als Hartz-IV-Empfänger. Daher lautet ihre wichtigste Botschaft: „Vertrauen wir unseren Kindern.“Sie werden ihren Weg schon finden.

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