Tatort Familie
Spielzeitstart Das Staatstheater Augsburg beweist zum Saisonstart ein ausgesprochen glückliches Händchen: Rafael Spregelburds „Luzid“verlangt Ursachenforschung
Augsburg Nun ist tatsächlich gleich zum Start der neuen Spielzeit am Staatstheater Augsburg der Fall eingetreten, dass man eine Aufführung nicht nur einmal gesehen haben sollte, sondern zweimal gesehen haben muss, um all seine funkelnden Facetten zu erfassen, zu goutieren, einzuordnen. Und um nach einer überraschenden Schlusswende noch einmal – bei einem zweiten Durchlauf – jene Vorbereitungen, Anspielungen, falschen und richtigen Fährten wissend nun zu überdenken, die eben in diese überraschende, implodierende finale Volte mündeten. Hätte man schon vor dem Ende etwas ahnen können? ...
„Wozu in alle Welt hinausposaunen, wenn eine Familie Glück und Freude im Überfluss hat?“So lautet ein Statement von Geburtstagskind und Sohnemann Lucas gleich zu Beginn des traurig-komischen Schauspiels „Luzid“des Argentiniers Rafael Spregelburd. Wir ahnen, dass es – wie in allen anderen Familien, nur nicht der eigenen – nicht so weit her ist mit dem reinen Familienglück. Auf falscher Fährte erhalten wir auch Recht: Es entwickelt sich eine gruppendynamisch-kämpferische Familientragödie unter den bestens bewährten Strindberg- und IbsenSchlachtrufen: Jeder gegen jeden. Mutter Teté vor allem gegen Tochter Lucrezia, Lucas vor allem gegen Muttern, und die zwei Geschwister sind sich auch nicht immer grün. Kommt noch Tetés seltsame Fragen stellender neuer Lover Philipp beziehungsweise der Kellner Philipp dazu – fertig ist das ebenfalls bestens bewährte Psychokisten-Quartett, das sich im Fetzen fliegenden Kammerspiel die Hölle heiß macht.
Indessen: Lucas scheint auch ein luzider (Alp-)Träumer zu sein und bei Lucrezia wissen wir nicht so genau, ob sie nun schon zwei Kindern das Leben geschenkt hat – oder nicht. Und so beginnt die sowieso instabile Geschichte gefährlich zu schwanken zwischen Sein und Schein, zwischen außergewöhnlicher Zuneigung und außergewöhnlichem Hass, zwischen Groteske, absurdem Theater und surrealer Überhöhung – bis hin zu einem Kurzschluss, bis hin zur Frage „Bist Du verrückt?“So werden wir scheinbar Zeuge von üblichen bis boshaftesten Verhaltensauffälligkeiten.
Ja, dies ist eine Familientragödie, bei der das Lachen im Halse stecken bleiben kann. Aber es gilt – im Nachhinein – auch: Nein, dies ist keine Gruppenpsychokiste. Zu den raffiniert falschen Fährten, die hier ausgelegt werden, gehört auch: Jene Person unter den Vieren, die man einen Abend lang am liebsten an die Wand geklatscht hätte, haben wir zutiefst zu bedauern ...
Und nun das Ganze noch mal von vorn.
Dieses höchst unwahrscheinliche aber auch höchst reizvolle Gedankenspiel, diesen feinst ausgeklügelten Katastrophen-Verarbeitungsversuch hat am Staatstheater Augsburg David Ortmann in deutscher Erstaufführung in Szene gesetzt. Als lokaler „Tatort“-Regisseur verlangt er wieder kombinatorischen, detektivischen Spürsinn – und führt sein Darsteller-Quartett in Asia-Restaurant-Szenerie (Ausstattung: Justus Saretz) zu exzellentem, psychologisierendem Schauspielertheater.
Wer vorne sitzt in der Brechtbühne des Gaswerks, der ist nah dran an der hohen mimischen und gestischen Kunst von:
● Ute Fiedler als berechenbar-unberechenbare Mutter Teté,
● Julius Kuhn als gehegt-gedemütigter Sohn Lucas,
● Katharina Rehn als Blitzableiter, Sündenbock und Tochter Lucretia,
● Roman Pertl als elegant-aalglatter doppelter Philipp und einfacher Andreas.Die Vier, das kann man sagen, spielen so präzise, als ob es um Nahaufnahmen für den Film ginge. Kommt noch Fabian Heichele als Tubist und Alphornspieler mit untergründig psychischem Brodeln hinzu. Ein starker Abend.
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Nächste Vorstellungen: 4., 9., 19.,
25. Oktober, 9., 30. November, 12.,
28. Dezember