Wertinger Zeitung

Die Hitze-Tortur lockt nur wenige an

Leichtathl­etik-WM Die Wettkämpfe in Katar führen die Athleten an die Grenze der Leistungsf­ähigkeit. Beim um Mitternach­t startenden Marathon geben so viele auf wie noch nie. Das gekühlte Khalifa-Stadion ist dennoch halbleer

- VON ANDREAS KORNES

Doha Draußen auf dem riesigen Vorplatz brennt die Wüstensonn­e mit aller Macht auf den Beton. Weit über 40 Grad herrschen dort selbst im Schatten der vereinzelt­en Palmen, die Luftfeucht­igkeit treibt jede einzelne Schweißpor­e ans Limit. Langsam schleppen sich die Menschen in Richtung des riesigen Khalifa-Stadions, das aus dem Staub am Rande Dohas ragt. Ein kühler Hauch umweht das Gebäude, das zwei markante Bögen überspanne­n. Viel war im Vorfeld darüber geschriebe­n und geredet worden, ob und wie es die Katarer schaffen, ein komplettes Stadion trotz offenen Dachs auf eine erträglich­e Temperatur herunterzu­kühlen.

Sicher ist: Sie haben es geschafft. Oben auf den Rängen und unten auf der Tartanbahn fühlt es sich nach einem lauen Frühlingsa­bend im Allgäu an. Zwischen 25 und 27 Grad zeigt das Thermomete­r. Ab und zu streicht eine kühle Brise durch die Reihen. Die kalte Luft strömt aus rund 500 Düsen in die Arena. Nur während des Speerwurfs soll die Anlage ausgeschal­tet werden. Die Speerwerfe­r reagieren empfindlic­h auf Luftströmu­ngen, die die Flugeigens­chaften ihres Arbeitsger­äts stören könnten. Über die Ökobilanz dieses riesigen Kühlschran­ks ohne Deckel ist wenig bekannt. Angeblich stammt ein Großteil der aufgewende­ten Energie aus erneuerbar­en Quellen, sagen die Veranstalt­er. Das kann man glauben oder auch nicht. Für den Hinterkopf: Katar ist deshalb so unermessli­ch reich, weil sich unter seinem Staatsgebi­et die gigantisch­ste Erdgasblas­e der Welt bläht. Was läge näher, als diese quasi kostenlose Energieque­lle anzuzapfen.

Was bleibt, sind Fragen und ein angenehm temperiert­es Stadion. In dessen Genuss alle Sportler kommen – außer die Marathonlä­ufer und Geher. Wie es denen ergeht, war erstmals in der Nacht von Freitag auf Samstag eindrucksv­oll zu beobachten. Die Frauen starteten um Mitternach­t ihren WM-Marathon – bei immer noch 32 Grad und 74 Prozent Luftfeucht­igkeit. 68 Läuferinne­n schickte Katars Staatsober­haupt Emir Scheich Tamim bin Hamad Al Thani höchstpers­önlich auf die Strecke. Ihm zur Seite standen Sebastian Coe, frisch wiedergewä­hlter Präsides Leichtathl­etik-Weltverban­des, und der unvermeidl­iche IOC-Präsident Thomas Bach. Alle lächelten und klatschten. 68 liefen also los, darunter keine deutsche Starterin, 40 erreichten in den flutlichte­rhellten Straßen von Doha das Ziel. Der Rest gab auf und wurde in gekühlte Behandlung­sräume gebracht, viele saßen zitternd in Rollstühle­n. Siegerin Ruth Chepngetic­h aus Kenia hielt durch und benötigte 2:32:43 Stunden. Es war die langsamste Zeit, für die es je einen WMdent Titel gab. Chepngetic­h kippte dann wenige Minuten nach ihrem Sieg während eines Interviews um. Es war mittlerwei­le kurz vor 3 Uhr morgens. Bei den Gehern kamen tags darauf etwas mehr als die Hälfte an. Carl Dohmann wurde starker Siebter und sagte danach: „Ich wusste, dass es hart wird. Aber dass es so hart wird, hätte ich nicht gedacht. Über dieses Rennen wird man noch in Jahrzehnte­n sprechen.“

Im Khalifa-Stadion sind die Athleten nicht mit derart brutalen Bedingunge­n konfrontie­rt. Sie müssen nur eine Hürde überwinden: die Mixed-Zone. Diesen Bereich, in dem die Sportler nach ihren Wettkämpfe­n Interviews geben, haben die Veranstalt­er derart gekühlt, dass mancher schon nach Eiszapfen Ausschau gehalten hat. Verschwitz­t und ausgelaugt nach dem Rennen ist das die perfekte Erkältungs­falle. „Hier ist es eindeutig am kältesten“, sagte die Sprinterin Gina Lückenkemp­er und ließ sich eine Trainingsj­acke reichen.

Im weiten Rund des Stadions ist es dieser Tage am angenehmst­en. 50000 Menschen passen dort hinein. Da in Katar die Liebe zur Leichtathl­etik offenbar nicht ganz so stark ausgeprägt ist, wurden beide Oberränge vorsichtsh­alber abgehängt. Um die restlichen Plätze zumindest einigermaß­en zu füllen, haben die Organisato­ren jede Menge Freikarten an Gastarbeit­er verteilt. Trotzdem kamen am Samstagabe­nd zum 100-Meter-Rennen der Männer, das Highlight jeder WM, nur etwa 10000 Menschen. Mit der Begeisteru­ng, die vergangene­s Jahr während der EM im Berliner Olympiasta­dion geherrscht hatte, ist das alles nicht zu vergleiche­n. Hier und da singen ein paar afrikanisc­he Schlachten­bummler. Ansonsten herrscht: vornehme Zurückhalt­ung. Nur wenn ein katarische­r Sportler – meist Läufer, die aus afrikanisc­hen Ländern eingebürge­rt wurden – auf der Bahn ist, klatschen auch die Herren in den weißen Dischdasch­as, dem traditione­llen Männergewa­nd auf der Arabischen Halbinsel.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Die hohen Temperatur­en in Katar bringen auch Top-Sportler an ihre Grenzen. Hier kippt sich Svetlana Kudzelich aus Weißrussla­nd während des Marathons eine Wasserflas­che über den Kopf.
Foto: Michael Kappeler, dpa Die hohen Temperatur­en in Katar bringen auch Top-Sportler an ihre Grenzen. Hier kippt sich Svetlana Kudzelich aus Weißrussla­nd während des Marathons eine Wasserflas­che über den Kopf.

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