Ernüchternd
Alkohol Die Russen trinken immer weniger. Was kommt als Nächstes?
Nichts ist schwieriger, als sich von lieb gewonnenen Vorurteilen zu trennen. Das ist ein bisschen wie der Verlust eines guten alten Bekannten. Vermeintliche Gewissheiten lösen sich in Luft auf und zurück bleibt Leere. Jahrelang war die
Sache so klar: Der Engländer liebt es, in der Schlange zu stehen und auf irgendetwas zu warten. Der Deutsche punktet mit pedantischer Pünktlichkeit.
Und der Russe trinkt Wodka in rauen Mengen, um anschließend fröhlich Gläser an die Wand zu werfen. So weit, so übersichtlich. Aber was kümmert das schon diese ignorante Welt, die doch auch ansonsten alles dafür tut, um aus den Fugen zu geraten?
Neuerdings jedenfalls tun sich wunderliche Dinge. Der Engländer hat die ewige Warterei auf den Brexit gehörig satt – erst recht, weil ihm immer noch keiner sagen kann, was da am Ende der Schlange überhaupt auf ihn zukommt. Die sprichwörtliche deutsche Pünktlichkeit legt auf dem Berliner Großflughafen eine Bruchlandung nach der anderen hin. Und der Russe? Auf den ist auch kein Verlass mehr. Wie die Weltgesundheitsorganisation am Dienstag mitteilte, ging der Alkoholkonsum der einstigen Wodka-Weltmacht von 2003 bis 2016 um 43 Prozent zurück, um nicht zu sagen: um 430 Promille. Die Russen trinken heutzutage im Schnitt sogar weniger als wir Deutschen. Irgendwie ernüchternd, oder? Also verstehen Sie uns jetzt nicht falsch, natürlich freuen wir uns über diesen großartigen Erfolg im Kampf gegen die Trunksucht, in dessen Folge im Übrigen die Lebenserwartung zwischen Moskau und Sibirien massiv gestiegen ist. Und wir haben ja auch volles Verständnis für den ermüdeten Engländer. Nur wo bekommen wir jetzt auf die Schnelle neue Klischees her?