Die Güter-Lüge
Hintergrund Seit Jahrzehnten versprechen Politiker, mehr Güter von der Straße auf die Schiene zu bringen. In Wahrheit passiert trotz Klimadebatte das Gegenteil. Dabei gibt es längst technische Lösungen. Warum ändert sich nichts?
Leipzig Auf dem Gleis eines Bahnparks im Leipziger Osten steht ein Spezialwaggon, der Deutschlands Verkehrsprobleme lösen soll. Der flache Güterwagen hat einen 30 Tonnen schweren Lkw-Sattelauflieger geladen. Ein leises Surren ist zu vernehmen, als sich die wannenartige Mitte des Waggons anhebt und die Seitenwände langsam automatisch nach unten kippen. Zwei flache rote Stahlträger fahren vom Bahnsteig unter die Wanne und ziehen den knapp 14 Meter langen Sattelauflieger fast lautlos auf die Abfertigungsstraße: Jetzt kann ihn binnen weniger Minuten der Lkw-Fahrer mit seiner Zugmaschine übernehmen und sein nahes Ziel ansteuern.
Cargo-Beamer heißt das seit Jahren von Experten hochgelobte Verlade-System, das Güter einfach von der Straße auf die Schiene bringen kann. Der Clou der Cargo-BeamerTechnik ist, dass es die Umschlagszeiten von Straße auf Schiene auf Minuten reduziert – in den meisten deutschen Terminals oder dem System der sogenannten „rollenden Landstraße“dauert es lange Stunden. Die Cargo-Beamer-Technik – so bescheinigen es unabhängige Experten – könnte dagegen tatsächlich einen Beitrag zu einer umweltfreundlicheren Verkehrswende leisten. Könnte. Denn die Firma hat kaum Einheiten in Betrieb, das Terminal in Leipzig ist nur ein Prototyp zu Demonstrationszwecken.
Seit vielen Jahrzehnten versprechen Politiker, mehr Güter auf die Schiene bringen zu wollen. Passiert ist genau das Gegenteil: Seit der Wiedervereinigung ist der Anteil der Schiene am Güterverkehr von elf auf unter neun Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum hat der Lkw-Verkehr auf der Straße um 28 Prozent zugenommen, Tendenz weiter stark steigend. Selbst Spediteure und Unternehmen, die mehr Waren auf der Schiene transportieren wollen, klagen über fehlende Kapazitäten, unattraktive Fahrpläne und die Ineffizienz der Bahn.
Vor allem wegen immer mehr Lastzügen auf den Autobahnen ist der klimaschädliche Treibhausgasausstoß des Verkehrs in Deutschland seit der Wiedervereinigung nicht gesunken. Während die Autos deutlich sparsamer wurden, stößt der Lkw-Verkehr heute 20 Prozent mehr CO2 aus als 1995. Jeder kann es inzwischen auf den Autobahnen sehen, „Elefantenrennen“überholender Lkw, nachts völlig überfüllte Rastplätze, Lkw-Fahrer, die auf dem Standstreifen übernachten, und schier endlose Sattelschlepper-Karawanen zu fast jeder Tageszeit. Die Staus auf deutschen Autobahnen haben sich allein seit 2012 in ihrer mehr als verdoppelt – auf über eineinhalb Millionen Kilometer im Jahr.
Bereits 1954 wollte der damalige CDU-Verkehrsminister Hans Seebohm den Transport von Massengütern durch Lkw einschränken, die Spediteure sollten die Schiene nutzen. So sollte der auch damals schon defizitären Bundesbahn geholfen werden. Doch die Lkw-Spediteure und Lobbyisten wehrten sich so lange, bis Seebohm den Plan aufgab. Im Jahr 1967 unternahm dann der Sozialdemokrat Georg Leber einen neuen Anlauf: Mit einer Art Lkw-Maut wollte er die Transporte auf die Schiene zwingen. Wieder schrieen die Speditionen auf, wieder scheiterte ein Verkehrsminister. Im Jahr 1960 waren rund 680000 Lkw in Deutschland zugelassen, 2018 über drei Millionen. Nicht mitgerechnet die Massen ausländischer Lastzüge, die meist im Auftrag deutscher Firmen unterwegs sind.
Im Konferenzraum von Cargo Beamer hängt ein Aquarell einer rot-weißen Diesellok der DB. „Leider ist der Lkw-Transport derzeit noch zu günstig“, sagt Cargo-Beamer-Vorstand Markus Fischer. „Da besteht wenig Anreiz, auf die Schiene umzusteigen.“Fischer ist Finanzvorstand des Unternehmens, in einem früheren Leben war er Investmentbanker. Jetzt ist der 43-Jährige bekennender Bahn-Fan und pendelt mit dem Zug zwischen München und Leipzig. Ein weiteres Problem, den Verkehr auf die Schiene zu verlagern, sei, dass die großen Güterterminals auf die Verladung von Containern spezialisiert sind und die meisten Sattelauflieger überhaupt nicht verladen können. „Allein über unser System könnte man nahezu alle Sattelauflieger effizient auf die Schiene bringen“, sagt Cargo-Beamer-Vorstand Fischer.
Weniger Lkw-Verkehr, mehr Güter auf die Schiene – dafür ist auch Toni Hofreiter. Der GrünenFraktionschef saß jahrelang im Bundestags-Verkehrsausschuss, zeitweise als Vorsitzender. „Als ich vor 14 Jahren in den Bundestag kam, lagen die ganzen Probleme, über die wir heute sprechen, auf dem Tisch“, sagt der Grüne. „Pünktlichkeit, Klimakrise, Finanz- und Kapazitätsprobleme“, betont er.
„CDU/CSU und SPD haben sich immer gegen notwendige Investitionen gesperrt“, kritisiert Hofreiter. „Das, was getan wurde, war Flickschusterei. Und alle wussten es.“Zwar habe die Bundesregierung die Trassenpreise im Schienengüterverkehr um 50 Prozent gesenkt. „Das klingt erst einmal gut. Aber die Knotenpunkte sind eh schon so ausgelastet, dass da kein Zug zusätzlich fahren kann.“Ein großes Problem seien die beiden Nord-Süd-Trassen als Hauptschlagadern des deutschen Schienenverkehrs. Hofreiter fordert, die Investitionen in die Schiene kurzfristig zu verdoppeln und langfristig zu vervierfachen, will man das Versprechen erfüllen, wirklich mehr Güter auf die Schiene zu bringen.
Die jetzt im Klimapaket beschlossene Summe in Höhe von 86 Milliarden Euro bis 2030 sei viel zu wenig. Hofreiter fordert mindestens 200 Milliarden Euro Investitionen, doch der Grüne ist pessimistisch: „Mit Schuldenbremse und schwarzer Null wird die Große Koalition die Bahn nicht auf Vordermann bringen können.“Statt des jetzigen Bundesverkehrswegeplans als Summe von Einzelprojekten brauche es ein stimmiges Gesamtkonzept. „Unsere Verkehrspolitik wird bestimmt durch einflussreiche Ministerpräsidenten und Verkehrs- und HausLänge haltspolitiker, die lokale Interessen über Sinnhaftigkeit stellen“, klagt Hofreiter.
Auch der Verkehrswissenschaftler Christian Böttger kritisiert die von Verkehrsminister Andreas Scheuer angekündigten 86 Milliarden Euro. Dabei handle es sich nur um sogenannte Ersatzinvestitionen, statt nötiger Investitionen in Neuund Ausbau. „Um das bestehende Netz zu erhalten, hat man den Neubau-Etat geplündert“, kritisiert der Berliner Professor. Der NeubauEtat hatte bis 2004 jährlich drei Milliarden Euro betragen, heute ist es die Hälfte. Aber selbst wenn die Bahn ein Zig-Milliarden-Geschenk erhalten würde, hätte das keinen Effekt, klagt Bahnexperte Böttger: „Die Bahn hat überhaupt keine Planungsoder Baukapazitäten übrig.“Und selbst bei aktuellen Ausschreibungen für Brückenprojekte habe die Bahn angesichts des aktuellen Baubooms nicht mal Angebote von Baufirmen erhalten, berichtet er.
Verschärft wird der Investitionsstau durch das extrem komplexe deutsche Baurecht, betont der Professor. Gegner von Großprojekten hätten es hierzulande besonders leicht, diese zu verzögern oder gar zu verhindern. „Bei den Anschlussstrecken zum Fehmarnbelttunnel gab es acht Eingaben von dänischer Seite und 3500 auf der deutschen“, berichtet Böttger. All das führe dazu, dass Bahnprojekte nicht selten 15 bis 20 Jahre brauchten, bis der erste Zug über die Schienen rolle.
Diese Erfahrungen macht auch Cargo Beamer. In Kaldenkirchen an der deutsch-holländischen Grenze plant das Unternehmen eines seiner ersten Terminals. Immer wieder habe es Verzögerungen gegeben, insbesondere wegen der komplexen Planverfahren oder einer plötzlich vor Ort entdeckten Tierart, was viel Zeit und Geld koste. Dabei müssten neue Umschlagbahnhöfe schnell gebaut werden, sagt Cargo-BeamerVorstand Fischer. „Ein Kranterminal kann maximal 100000 Lkw im Jahr verladen, eines von unseren 250000“, betont der Unternehmer.
Auch in Calais entsteht gerade ein neues Terminal von Cargo Beamer. Dort gehe es schneller voran, sagt Fischer. Es bestehe bereits Baurecht. Das Projekt wird unter anderem von der EU gefördert. „Wir werden den Warentransport von und zur britischen Insel vereinfachen“, sagt Fischer. „Der französische Staat ist sehr interessiert an unserer Technologie und unterstützt uns unkompliziert.“Bei Cargo Beamer hoffen sie darauf, dass die europäischen Verkehrspolitiker der Schiene durch wirksamere und unkompliziertere Fördermaßnahmen zu besseren Wettbewerbsbedingungen gegenüber der Straße verhelfen.
Die Nachteile der Bahn gegenüber der Straße sind tatsächlich gravierend. Laut dem Verkehrswissenschaftler Böttger werden Lkw noch immer unzureichend kontrolliert, was Lenkzeiten und Emissionen angeht. Im Gegensatz zur Schiene muss der Straßenverkehr trotz Lkw-Maut auch nicht seine tatsächlichen Kosten tragen, er wird üppig durch Steuermittel subventioniert. Auch Diesel wird fast 30 Prozent niedriger versteuert als Benzin. Der Straßenverkehr koste jedes Jahr zehn Prozent mehr, als alle entsprechenden Einnahmen und damit direkt verbundene Steuern einbrächten, rechnet Böttger vor.
Nicht eingerechnet sind die ökologischen Kosten: So bläst ein DieselLkw pro Kilometer transportierter Tonne mit 103 Gramm CO2 mehr als fünfmal so viel Treibhausgas in die Luft als ein entsprechender Güterzug. Daran ändert auch das Klimaschutzpaket der Regierung nichts, sagt Experte Böttger. Er sieht aber nicht nur bei der Politik die Schuld, dass sich Deutschland mit dem Ziel, mehr Güter auf die Schiene zu verlagern, selbst belügt: „Unsere vollen Tiefkühltruhen haben wir einer günstigen und effizienten Logistik zu verdanken, neue Bahntrassen will aber niemand vor seiner Haustür.“
Bei Cargo Beamer immerhin herrscht Zuversicht: „Wir sehen immense Wachstumspotenziale in Europa und darüber hinaus.“Wenn das Interesse in Deutschland an der Technologie nicht wachse – auch andernorts sei die Verkehrswende ein Thema, sagt Fischer. „Der Schienengüterverkehr braucht dringend Lösungen“, betont er. „In zehn Jahren können wir ein global agierendes Unternehmen sein.“
Seit 1954 will die Regierung weniger Güter auf der Straße
Ladung im Lkw statt im Zug erzeugt fünfmal mehr CO2