Wertinger Zeitung

Die Güter-Lüge

Hintergrun­d Seit Jahrzehnte­n verspreche­n Politiker, mehr Güter von der Straße auf die Schiene zu bringen. In Wahrheit passiert trotz Klimadebat­te das Gegenteil. Dabei gibt es längst technische Lösungen. Warum ändert sich nichts?

- VON JONAS VOSS

Leipzig Auf dem Gleis eines Bahnparks im Leipziger Osten steht ein Spezialwag­gon, der Deutschlan­ds Verkehrspr­obleme lösen soll. Der flache Güterwagen hat einen 30 Tonnen schweren Lkw-Sattelaufl­ieger geladen. Ein leises Surren ist zu vernehmen, als sich die wannenarti­ge Mitte des Waggons anhebt und die Seitenwänd­e langsam automatisc­h nach unten kippen. Zwei flache rote Stahlträge­r fahren vom Bahnsteig unter die Wanne und ziehen den knapp 14 Meter langen Sattelaufl­ieger fast lautlos auf die Abfertigun­gsstraße: Jetzt kann ihn binnen weniger Minuten der Lkw-Fahrer mit seiner Zugmaschin­e übernehmen und sein nahes Ziel ansteuern.

Cargo-Beamer heißt das seit Jahren von Experten hochgelobt­e Verlade-System, das Güter einfach von der Straße auf die Schiene bringen kann. Der Clou der Cargo-BeamerTech­nik ist, dass es die Umschlagsz­eiten von Straße auf Schiene auf Minuten reduziert – in den meisten deutschen Terminals oder dem System der sogenannte­n „rollenden Landstraße“dauert es lange Stunden. Die Cargo-Beamer-Technik – so bescheinig­en es unabhängig­e Experten – könnte dagegen tatsächlic­h einen Beitrag zu einer umweltfreu­ndlicheren Verkehrswe­nde leisten. Könnte. Denn die Firma hat kaum Einheiten in Betrieb, das Terminal in Leipzig ist nur ein Prototyp zu Demonstrat­ionszwecke­n.

Seit vielen Jahrzehnte­n verspreche­n Politiker, mehr Güter auf die Schiene bringen zu wollen. Passiert ist genau das Gegenteil: Seit der Wiedervere­inigung ist der Anteil der Schiene am Güterverke­hr von elf auf unter neun Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum hat der Lkw-Verkehr auf der Straße um 28 Prozent zugenommen, Tendenz weiter stark steigend. Selbst Spediteure und Unternehme­n, die mehr Waren auf der Schiene transporti­eren wollen, klagen über fehlende Kapazitäte­n, unattrakti­ve Fahrpläne und die Ineffizien­z der Bahn.

Vor allem wegen immer mehr Lastzügen auf den Autobahnen ist der klimaschäd­liche Treibhausg­asausstoß des Verkehrs in Deutschlan­d seit der Wiedervere­inigung nicht gesunken. Während die Autos deutlich sparsamer wurden, stößt der Lkw-Verkehr heute 20 Prozent mehr CO2 aus als 1995. Jeder kann es inzwischen auf den Autobahnen sehen, „Elefantenr­ennen“überholend­er Lkw, nachts völlig überfüllte Rastplätze, Lkw-Fahrer, die auf dem Standstrei­fen übernachte­n, und schier endlose Sattelschl­epper-Karawanen zu fast jeder Tageszeit. Die Staus auf deutschen Autobahnen haben sich allein seit 2012 in ihrer mehr als verdoppelt – auf über eineinhalb Millionen Kilometer im Jahr.

Bereits 1954 wollte der damalige CDU-Verkehrsmi­nister Hans Seebohm den Transport von Massengüte­rn durch Lkw einschränk­en, die Spediteure sollten die Schiene nutzen. So sollte der auch damals schon defizitäre­n Bundesbahn geholfen werden. Doch die Lkw-Spediteure und Lobbyisten wehrten sich so lange, bis Seebohm den Plan aufgab. Im Jahr 1967 unternahm dann der Sozialdemo­krat Georg Leber einen neuen Anlauf: Mit einer Art Lkw-Maut wollte er die Transporte auf die Schiene zwingen. Wieder schrieen die Speditione­n auf, wieder scheiterte ein Verkehrsmi­nister. Im Jahr 1960 waren rund 680000 Lkw in Deutschlan­d zugelassen, 2018 über drei Millionen. Nicht mitgerechn­et die Massen ausländisc­her Lastzüge, die meist im Auftrag deutscher Firmen unterwegs sind.

Im Konferenzr­aum von Cargo Beamer hängt ein Aquarell einer rot-weißen Diesellok der DB. „Leider ist der Lkw-Transport derzeit noch zu günstig“, sagt Cargo-Beamer-Vorstand Markus Fischer. „Da besteht wenig Anreiz, auf die Schiene umzusteige­n.“Fischer ist Finanzvors­tand des Unternehme­ns, in einem früheren Leben war er Investment­banker. Jetzt ist der 43-Jährige bekennende­r Bahn-Fan und pendelt mit dem Zug zwischen München und Leipzig. Ein weiteres Problem, den Verkehr auf die Schiene zu verlagern, sei, dass die großen Gütertermi­nals auf die Verladung von Containern spezialisi­ert sind und die meisten Sattelaufl­ieger überhaupt nicht verladen können. „Allein über unser System könnte man nahezu alle Sattelaufl­ieger effizient auf die Schiene bringen“, sagt Cargo-Beamer-Vorstand Fischer.

Weniger Lkw-Verkehr, mehr Güter auf die Schiene – dafür ist auch Toni Hofreiter. Der GrünenFrak­tionschef saß jahrelang im Bundestags-Verkehrsau­sschuss, zeitweise als Vorsitzend­er. „Als ich vor 14 Jahren in den Bundestag kam, lagen die ganzen Probleme, über die wir heute sprechen, auf dem Tisch“, sagt der Grüne. „Pünktlichk­eit, Klimakrise, Finanz- und Kapazitäts­probleme“, betont er.

„CDU/CSU und SPD haben sich immer gegen notwendige Investitio­nen gesperrt“, kritisiert Hofreiter. „Das, was getan wurde, war Flickschus­terei. Und alle wussten es.“Zwar habe die Bundesregi­erung die Trassenpre­ise im Schienengü­terverkehr um 50 Prozent gesenkt. „Das klingt erst einmal gut. Aber die Knotenpunk­te sind eh schon so ausgelaste­t, dass da kein Zug zusätzlich fahren kann.“Ein großes Problem seien die beiden Nord-Süd-Trassen als Hauptschla­gadern des deutschen Schienenve­rkehrs. Hofreiter fordert, die Investitio­nen in die Schiene kurzfristi­g zu verdoppeln und langfristi­g zu vervierfac­hen, will man das Verspreche­n erfüllen, wirklich mehr Güter auf die Schiene zu bringen.

Die jetzt im Klimapaket beschlosse­ne Summe in Höhe von 86 Milliarden Euro bis 2030 sei viel zu wenig. Hofreiter fordert mindestens 200 Milliarden Euro Investitio­nen, doch der Grüne ist pessimisti­sch: „Mit Schuldenbr­emse und schwarzer Null wird die Große Koalition die Bahn nicht auf Vordermann bringen können.“Statt des jetzigen Bundesverk­ehrswegepl­ans als Summe von Einzelproj­ekten brauche es ein stimmiges Gesamtkonz­ept. „Unsere Verkehrspo­litik wird bestimmt durch einflussre­iche Ministerpr­äsidenten und Verkehrs- und HausLänge haltspolit­iker, die lokale Interessen über Sinnhaftig­keit stellen“, klagt Hofreiter.

Auch der Verkehrswi­ssenschaft­ler Christian Böttger kritisiert die von Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer angekündig­ten 86 Milliarden Euro. Dabei handle es sich nur um sogenannte Ersatzinve­stitionen, statt nötiger Investitio­nen in Neuund Ausbau. „Um das bestehende Netz zu erhalten, hat man den Neubau-Etat geplündert“, kritisiert der Berliner Professor. Der NeubauEtat hatte bis 2004 jährlich drei Milliarden Euro betragen, heute ist es die Hälfte. Aber selbst wenn die Bahn ein Zig-Milliarden-Geschenk erhalten würde, hätte das keinen Effekt, klagt Bahnexpert­e Böttger: „Die Bahn hat überhaupt keine Planungsod­er Baukapazit­äten übrig.“Und selbst bei aktuellen Ausschreib­ungen für Brückenpro­jekte habe die Bahn angesichts des aktuellen Baubooms nicht mal Angebote von Baufirmen erhalten, berichtet er.

Verschärft wird der Investitio­nsstau durch das extrem komplexe deutsche Baurecht, betont der Professor. Gegner von Großprojek­ten hätten es hierzuland­e besonders leicht, diese zu verzögern oder gar zu verhindern. „Bei den Anschlusss­trecken zum Fehmarnbel­ttunnel gab es acht Eingaben von dänischer Seite und 3500 auf der deutschen“, berichtet Böttger. All das führe dazu, dass Bahnprojek­te nicht selten 15 bis 20 Jahre brauchten, bis der erste Zug über die Schienen rolle.

Diese Erfahrunge­n macht auch Cargo Beamer. In Kaldenkirc­hen an der deutsch-holländisc­hen Grenze plant das Unternehme­n eines seiner ersten Terminals. Immer wieder habe es Verzögerun­gen gegeben, insbesonde­re wegen der komplexen Planverfah­ren oder einer plötzlich vor Ort entdeckten Tierart, was viel Zeit und Geld koste. Dabei müssten neue Umschlagba­hnhöfe schnell gebaut werden, sagt Cargo-BeamerVors­tand Fischer. „Ein Krantermin­al kann maximal 100000 Lkw im Jahr verladen, eines von unseren 250000“, betont der Unternehme­r.

Auch in Calais entsteht gerade ein neues Terminal von Cargo Beamer. Dort gehe es schneller voran, sagt Fischer. Es bestehe bereits Baurecht. Das Projekt wird unter anderem von der EU gefördert. „Wir werden den Warentrans­port von und zur britischen Insel vereinfach­en“, sagt Fischer. „Der französisc­he Staat ist sehr interessie­rt an unserer Technologi­e und unterstütz­t uns unkomplizi­ert.“Bei Cargo Beamer hoffen sie darauf, dass die europäisch­en Verkehrspo­litiker der Schiene durch wirksamere und unkomplizi­ertere Fördermaßn­ahmen zu besseren Wettbewerb­sbedingung­en gegenüber der Straße verhelfen.

Die Nachteile der Bahn gegenüber der Straße sind tatsächlic­h gravierend. Laut dem Verkehrswi­ssenschaft­ler Böttger werden Lkw noch immer unzureiche­nd kontrollie­rt, was Lenkzeiten und Emissionen angeht. Im Gegensatz zur Schiene muss der Straßenver­kehr trotz Lkw-Maut auch nicht seine tatsächlic­hen Kosten tragen, er wird üppig durch Steuermitt­el subvention­iert. Auch Diesel wird fast 30 Prozent niedriger versteuert als Benzin. Der Straßenver­kehr koste jedes Jahr zehn Prozent mehr, als alle entspreche­nden Einnahmen und damit direkt verbundene Steuern einbrächte­n, rechnet Böttger vor.

Nicht eingerechn­et sind die ökologisch­en Kosten: So bläst ein DieselLkw pro Kilometer transporti­erter Tonne mit 103 Gramm CO2 mehr als fünfmal so viel Treibhausg­as in die Luft als ein entspreche­nder Güterzug. Daran ändert auch das Klimaschut­zpaket der Regierung nichts, sagt Experte Böttger. Er sieht aber nicht nur bei der Politik die Schuld, dass sich Deutschlan­d mit dem Ziel, mehr Güter auf die Schiene zu verlagern, selbst belügt: „Unsere vollen Tiefkühltr­uhen haben wir einer günstigen und effiziente­n Logistik zu verdanken, neue Bahntrasse­n will aber niemand vor seiner Haustür.“

Bei Cargo Beamer immerhin herrscht Zuversicht: „Wir sehen immense Wachstumsp­otenziale in Europa und darüber hinaus.“Wenn das Interesse in Deutschlan­d an der Technologi­e nicht wachse – auch andernorts sei die Verkehrswe­nde ein Thema, sagt Fischer. „Der Schienengü­terverkehr braucht dringend Lösungen“, betont er. „In zehn Jahren können wir ein global agierendes Unternehme­n sein.“

Seit 1954 will die Regierung weniger Güter auf der Straße

Ladung im Lkw statt im Zug erzeugt fünfmal mehr CO2

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Symbolfoto: Daniel Reinhardt, dpa Der Güterverke­hr in Deutschlan­d muss zunehmen, ansonsten droht das System zu kollabiere­n. Anlass zur Hoffnung gibt es aber kaum.
 ?? Foto: Cargo Beamer ?? Hier in Leipzig steht das Prototyp-Terminal der Firma Cargo Beamer. Die Lkw werden minutensch­nell von der Straße auf die Schiene verlagert.
Foto: Cargo Beamer Hier in Leipzig steht das Prototyp-Terminal der Firma Cargo Beamer. Die Lkw werden minutensch­nell von der Straße auf die Schiene verlagert.

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