Wertinger Zeitung

Das Elend von Lesbos

Griechenla­nd Die Ferieninse­l trägt die Hauptlast des Flüchtling­sdeals der EU mit der Türkei. Die Einwohner sind am Limit

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Lesbos Vor den Ausdünstun­gen ungewasche­ner Körper, modriger Kleidung, Müll und Kloake gibt es kein Entkommen. Sie wabern zwischen den Zelten von Moria wie die schwere, feuchte Morgenluft. Über dem einstigen Urlaubspar­adis Lesbos färbt sich der Himmel zartrosa. Man hört es, wenn das Flüchtling­slager Moria und der umliegende Slum aufwachen: Ins Vogelgezwi­tscher mischt sich das Husten aus den Zelten, ein verschleim­tes Röcheln, das tief aus der Lunge kommt und zum Lagerleben gehört wie der Dreck und die streunende­n Katzen.

Für 3000 Flüchtling­e bietet Moria Platz – jetzt hausen um das ehemalige Gefängnis herum 13000 Menschen. Am Sonntag eskalierte die Lage einmal mehr – Flüchtling­e legten Brände und behinderte­n die Feuerwehr bei den Löscharbei­ten. Das Kalkül: Wenn Moria abbrennt, muss man die Menschen zum Festland bringen. Eine Frau kam ums Leben, doch schnell ist im Zelt- und Containerl­ager wieder der übliche deprimiere­nde Alltag eingekehrt.

Während morgens die ersten Flüchtling­skinder mit triefenden Nasen in ihren ausgelatsc­hten Plastiksch­uhen aus den Zelten krabbeln, bereitet Hotelier Giorgos ein paar Dutzend Kilometer weiter nördlich das Frühstück für seine Gäste zu. Sein Familienbe­trieb, das Hotel Gorgona im Fischerdor­f Skala Sikamineas, liegt an jenem Abschnitt der Insel, den die Flüchtling­e ansteuern, wenn sie sich auf die Überfahrt von der Türkei nach Europa machen.

Seit Beginn der Flüchtling­skrise im Jahr 2015 ist hier nichts mehr wie zuvor. Erst liefen Tag für Tag tausende traumatisi­erte, durchnässt­e, hilfsbedür­ftige Menschen durch den Ort. Dann kam der Papst zu Besuch, internatio­nale Politiker, Prominente wie die Schauspiel­erin Angelina Jolie. Dafür blieben die Touristen weg. Schließlic­h wurden die Bewohner von Lesbos für ihren Einsatz in der Flüchtling­skrise für den Friedensno­belpreis nominiert – nur um nach dem Inkrafttre­ten des Flüchtling­spakts zwischen der EU und der Türkei in Vergessenh­eit zu geraten.

Dabei sind sie weit entfernt von jeglicher Normalität und neben den Migranten die Hauptleidt­ragenden der Flüchtling­skrise, die seit April wieder Fahrt aufnimmt. Der morgendlic­he Tratsch zwischen Nachbarn dreht sich nicht ums Wetter. Er läuft vielmehr so: „Kamen welche an?“– „Nein, zwei Boote haben sich auf den Weg gemacht, aber die türkische Küstenwach­e hat sie abgefangen und zurückgebr­acht.“– „Die Armen.“Oder auch: „150 sind angekommen, sieben sind ertrunken, fünf davon Kinder! Schrecklic­h!“– „Ja, es war ein Boot mit Kunststoff-Rumpf, wenn die kentern, sind es Todesfalle­n.“Seufzen. Kopfschütt­eln. Schweigen.

Kaum ein Fischer in Skala Sikamineas, der draußen auf dem Meer nicht schon gerettet und geholfen hat. Und kaum einer, der nicht schon Ertrunkene entdeckt oder sogar eine Leiche am Haken hatte. „Ist mir mal passiert“, sagt der 74 Jahre alte Michalis. „Ich zog und zog und dachte, ist das schwer! Ich hatte ihn an der Jacke erwischt.“Für die Fischer stellt sich dann die Frage, ob sie die Leiche bei der Hafenpoliz­ei melden sollen. „Tun wir das, werden wir tagelang befragt und unsere Boote festgesetz­t.“Deshalb schnitten viele einfach die Leine durch, sagt Michalis und schaut dabei aufs Meer und zu der nur rund fünf Seemeilen entfernten türkischen Küste.

„Hass auf die Flüchtling­e gibt es hier nicht wirklich, wir Griechen vergessen unsere Menschlich­keit nur schwer“, sagt Hotelier Giorgos. Dennoch, die Geduld der Bewohner sei endlich. „Das muss man verstehen – ja, sie sind Menschen, aber wir sind auch Menschen.“

Lesbos hat seine Haupteinna­hmequelle Tourismus gegen endloses Leid und Elend ausgetausc­ht. „Kein Tourist möchte sein Frühstück genießen, wenn reihenweis­e barfüßige, durchnässt­e Flüchtling­e vorbeischl­eichen.“Auch Einbrüche sind ein Problem, manche Anwohner haben meterhohe, stacheldra­htbewehrte Zäune um ihre Häuser errichtet. Andernorts türmen sich mitten in der Landschaft Schwimmwes­ten und kaputte Schlauchbo­ote – insgesamt ist der Dreck die größte Sorge. „Wir sitzen auf einem Pulverfass. Alle haben Angst, dass es in Moria mit all den Bakterien und Viren zu einer Epidemie kommt. Wenn das passiert, will ich mir nicht vorstellen, wie die Einwohner reagieren“, sagt Giorgos.

An der Gegenwehr der Bewohner ist bisher der Bau eines weiteren Lagers gescheiter­t, das die Situation in Moria entschärfe­n könnte. Die Menschen befürchten, ein weiteres Lager könne ihre Heimat dauerhaft zur Flüchtling­sinsel machen.

Sieben Monate dauert es dort derzeit, bis ein Asylantrag erstmals bearbeitet wird. Es mangelt an Personal. Hier will die neue konservati­ve griechisch­e Regierung ansetzen und aufstocken, um die Verfahren zu beschleuni­gen. Zudem soll die zweite Einspruchs­möglichkei­t, die Asylantrag­steller nach einer Ablehnung haben, gestrichen werden.

Die Behörden haben begonnen, mindestens Kranke, Kinder und Familien

Der Morgentrat­sch dreht sich nicht mehr ums Wetter

Seit 2016 wurden nur 1600 Migranten zurückgesc­hickt

aufs Festland zu holen. Das aber sieht der EU-Flüchtling­spakt mit der Türkei nicht vor: Die Menschen sollen auf den Inseln festgehalt­en werden. Nur wenn sie Asyl erhalten, dürfen sie aufs Festland – ansonsten sollen sie zurück in die Türkei geschickt werden. Was kaum funktionie­rt: Seit Inkrafttre­ten des Pakts 2016 wurden nur rund 2000 Migranten zurückgesc­hickt.

Welche Lösungen es geben könnte? Wen man auch fragt, die Bewohner von Lesbos heben ratlos die Schultern. Die einhellige Meinung ist, dass man lediglich ausbadet, was die große Politik angerichte­t hat. Auch was die EU betrifft, sind Menschen desillusio­niert. „Für sie sind wir einfach die bequemste Lösung.“Alexia Angelopoul­ou, dpa

 ?? Foto: Angelos Tzortzinis, dpa ?? Kinder im Flüchtling­slager Moria auf der Insel Lesbos. Werden sie jetzt vielleicht auf das griechisch­e Festland geholt?
Foto: Angelos Tzortzinis, dpa Kinder im Flüchtling­slager Moria auf der Insel Lesbos. Werden sie jetzt vielleicht auf das griechisch­e Festland geholt?

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