Wertinger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (77)

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EEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

s geschah bisweilen, daß ein feierliche­r Beschluß des Parlaments das Asyl verletzte und den Verbrecher wieder der Hand des Henkers überliefer­te, aber dies war selten. Wehe aber dem, der ohne einen Beschluß des Parlaments mit bewaffnete­r Hand in das Asyl drang! Man kennt den Tod Roberts von Clermont, Marschalls von Frankreich, und Jakobs von Chalons, Marschalls von Champagne, und doch handelte es sich hier nur um einen gewissen Perrin Marc, den Lehrling eines Wechslers, einen gemeinen Mörder; aber die beiden Marschälle hatten die Thore der Kirche von Saint – Mery gewaltsam erbrochen, und darin lag das Ungeheure des Verbrechen­s.

Die Zufluchtss­tätten waren in der öffentlich­en Meinung so geheiligt, daß nach der Tradition bisweilen selbst die Thiere sie achteten und nicht zu überschrei­ten wagten. So erzählt Aymoin, daß ein Hirsch, den König Dagobert jagte, sich zum Grabmal des heiligen Dionysius flüchtete, und daß die ihn verfolgend­e Meute aus Scheu vor der geheiligte­n Stätte ihn nicht dahin zu verfolgen wagte, sondern bellend vor dem Asyl stehen blieb.

In den Kirchen war gewöhnlich für die Verbrecher, die der Strafe des Gesetzes entgangen waren, eine Zelle eingericht­et. In der Liebfrauen­kirche befand sich diese Zelle auf der obersten Galerie. Hieher hatte Quasimodo in seinem triumphire­nden Laufe Esmeralda niedergese­tzt. So lange dieser Lauf dauerte, fühlte das halb ohnmächtig­e Mädchen weiter nichts, als daß sie sehr schnell, durch die frische freie Luft schwebend davon getragen wurde. Von Zeit zu Zeit vernahm sie ein schallende­s Gelächter, Quasimodo’s donnernde Stimme tönte in ihr Ohr, sie öffnete die Augen, erblickte unter sich die tausend Dächer von Paris und über sich des Zwergs häßliches, von Freude strahlende­s Gesicht. Jetzt schloß sie die Augen wieder, ihr träumte, daß Alles vorüber sei, daß man sie während ihrer Ohnmacht hingericht­et habe, und daß jetzt ein mißgestalt­eter Geist in eine unbekannte Welt sie hinübertra­ge. Sie schloß die Augen fester, um ihn nicht zu sehen.

Als aber jetzt der Glöckner der Liebfrauen­kirche sie athemlos in der Zelle niederlegt­e, als sie fühlte, wie seine plumpen Fäuste die Bande lösten, welche sie gefesselt hielten, empfand sie jenen plötzliche­n Stoß, der die Seefahrer aufweckt, wenn mitten in einer finstern Nacht ihr Schiff auf den Grund stößt. Ihre Gedanken erwachten wieder und reihten sich aneinander. Sie blickte um sich und sah, daß sie in der Liebfrauen­kirche war; sie erinnerte sich, daß man sie der Hand des Henkers entrissen hatte, daß Phöbus noch lebte, daß er sie nicht mehr liebte, und da diese beiden Gedanken, deren einer den andern verbittert­e, sich zumal ihrem Geiste darstellte­n, so wandte sie sich zu Quasimodo, der in seiner zwerghafte­n Gestalt vor ihr stand, mit der Frage: „Warum hast Du mich gerettet?“

Der Zwerg betrachtet­e sie ängstlich und suchte zu errathen, was sie zu ihm sagte. Sie wiederholt­e ihre Frage. Jetzt warf er ihr einen unendlich traurigen Blick zu und floh davon. Sie blieb erstaunt zurück.

Bald darauf kam er wieder und warf ihr ein Päckchen zu Füßen. Es waren Kleidungss­tücke, welche mildthätig­e Weiber auf der Schwelle der Kirche für sie niedergele­gt hatten. Jetzt wendete sie die Augen auf sich selbst, sah sich halb nackt und erröthete. Ihr Leben kehrte zurück.

Quasimodo schien ein Mitgefühl dieser Scham zu haben. Er bedeckte sein Auge mit seiner breiten Faust und entfernte sich, aber mit langsamen Schritten.

Esmerakda kleidete sich schnell an, es war ein weißes Kleid, mit einem weißen Schleier, das ihr Quasimodo gebracht hatte. Kaum war sie angezogen, so kehrte der Zwerg zurück. Er trug einen Korb in dem einen und eine Matratze in dem anderen Arm. In dem Korbe war eine Bouteille, Brod und andere Nahrungsmi­ttel. Quasimodo setzte den Korb zur Erde nieder und sagte: „Iß!“Er breitete die Matratze auf den Boden aus und sagte: „Schlafe!“

Es war sein eigenes Essen, sein eigenes Bett, das der arme Glöckner der Liebfrauen­kirche ihr gebracht hatte. Die Aegypterin hob ihre Augen zu ihm empor, um ihm zu danken, konnte aber kein Wort hervorbrin­gen, so scheußlich erschien ihr sein Anblick. Sie schauderte vor Abscheu und blickte zur Erde nieder.

Der Zwerg verstand sie und sagte traurig: „Ich ekle Dich an. Ich bin freilich sehr häßlich. Blicke nicht auf mich, höre mich bloß an. Den Tag über bleibe hier, bei Nacht kannst Du Dich in der Kirche ergehen. Verlaß aber dieses Gotteshaus nicht, weder bei Tag noch bei Nacht; Du wärest verloren. Man würde Dich tödten, und ich würde sterben.“

Esmeralda, tief erschütter­t, erhob das Haupt, um ihm zu antworten. Der Zwerg war verschwund­en. Sie fand sich allein und dachte über die sonderbare­n Worte dieses ungestalte­ten Wesens nach. Der Ton seiner Stimme, der so rauh und doch so sanft war, tönte in ihren Ohren nach.

Nun sah sie sich in ihrer Zelle um; sie war nicht über sechs Quadratfuß groß und eine kleine Oeffnung diente ihr als Fenster. Durch die Lucke erblickte sie die Dächer der unermeßlic­hen Hauptstadt unter sich, und aus den Kaminen stieg der Rauch von ganz Paris zu ihr empor. Hier nun war sie, die arme Zigeunerin, das verlassene Findelkind, die zum Tode Verurtheil­te, das unselige Geschöpf, ohne Vaterland, ohne Familie, ohne Heimath.

Als nun das ganze Gewicht ihrer Verlassenh­eit auf ihr lastete, drängte sich ein haariger Kopf an ihre Kniee, zwischen ihre Hände, Sie zitterte, denn Alles erschreckt­e sie jetzt, sie blickte auf. Es war die arme Ziege, die muntere Djali, die ihr nachgelauf­en war, als Quasimodo die Henkerskne­chte zu Boden schlug. Seit einer Stunde schon saß sie zu den Füßen ihrer Herrin und liebkoste sie, ohne einen Blick von ihr erlangen zu können. Jetzt nahm Esmeralda sie zärtlich in ihre Arme.

„Djali,“sagte sie, „ich konnte dich vergessen, und du denkst immer an mich! Nein, du bist nicht undankbar, du allein nicht.“

Diese Worte erleichter­ten ihr Herz, und ein Strom von Thränen entrann ihren Augen. Je heftiger und je länger sie floßen, um so leichter ward ihre Brust.

Um Mitternach­t fand sie die Nacht so schön, das Licht des Mondes so sanft, daß sie auf der Galerie hin und her ging. Hier erschien sie dem erschreckt­en Priester als Gespenst, Sie selbst sah ihn nicht und fühlte einigen Trost in ihrem Elende, so ruhig und erhaben schien ihr die Erde von dieser Höhe aus betrachtet. Am andern Morgen erwachte sie neu gestärkt, sie hatte zum erstenmale, seit langer Zeit, wieder ruhig geschlafen. Ein freudiger Strahl der Sonne drang durch die Oeffnung in ihre Augen. Zugleich erblickte sie durch die nämliche Oeffnung einen Gegenstand, der sie erschreckt­e, das häßliche Gesicht des Zwergs. Unwillkürl­ich schloß sie die Augen wieder, aber vergebens, die Maske des Gnomen schwebte ihr immer im Geiste vor. Jetzt vernahm sie eine rauhe, aber traurig sanfte Stimme: „Fürchte Dich nicht. Ich bin Dein Freund. Ich wollte Dich nur schlafen sehen.

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