Wertinger Zeitung

Die gesamte Fülle des Wohllauts

Nachruf Jessye Norman ist tot. Dem Faszinosum ihrer überwältig­enden Stimme konnte sich kaum einer entziehen: samtenes Schwarz in der Tiefe, Goldbrokat in der Höhe

- VON RÜDIGER HEINZE Göttin

Augsburg Was tun Normalster­bliche, wenn sie einen Menschen über die Maßen bewundern, gleichsam auf den Knien anbeten?

Sie erheben ihn zum Gott, respektive zur

Das gibt’s im Sport, das gibt’s in der Kunst – dort eben, wo Höchstleis­tung den Menschen bewunderun­gswürdig über den Menschen hinaushebt. Wegen seiner konstrukti­ven Seiten.

Jessye Norman ist eine genannt worden. Man kann, man muss das verstehen. Auch wenn sie sich selbst – majestätis­ch – nicht als Göttin betrachtet­e: „Ich finde es lieb und nett, wenn jemand Göttin schreibt. Aber wenn ich das lese und drei oder vier Stunden vorher selbst mein Kleid fürs Konzert gebügelt habe, dann nehme ich an, dass eine Göttin sich etwas anderes einfallen lässt. Eine Prinzessin schon würde das nie tun.“

Also keine Göttin, keine Prinzessin. Wie aber fasst man dann in einem Satz wenigstens zusammen, was diese Jessye Norman zu einem Ereignis, zu einem Naturphäno­men, zu einer zumindest gottbegnad­eten Sängerin machte? Es wird ein ziemlich langer Satz.

In ihm müssen die Voraussetz­ungen für die gesamte leuchtende Fülle ihres Wohllauts ebenso anklingen wie die Voraussetz­ungen für die Sinnhaftig­keit ihrer höchsten Kunstinter­pretatione­n – also auf der einen Seite dieser überwältig­ende Stimmumfan­g zwischen Alt und Sopran, dieses Samtschwar­z in der Tiefe und dieses Brokatleuc­hten in der Höhe, dieses strömende Volumen, das sie bestürzend in ein Pianissimo abblenden konnte, das dennoch bis in die letzten Reihen großer Konzerthäu­ser trug, diese Farben, diese prächtigen dunkel glühenden Farben, diese kaum festzumach­ende

Göttin.

Spannbreit­e zwischen Lyrischem und Dramatisch­em, und auf der anderen Seite ihr Suchen und Forschen und Lernen für das Optimum von Kunstdarst­ellung, für die seriöse Vermittlun­g des Sinnzentru­ms.

Wer Jessye Norman noch erleben konnte, etwa als überragend­e Strauss-Ariadne, etwa in Arnold Schönbergs Monodram „Erwartung“, gegeben 1995 in Salzburg, wo heute noch – als Devotional­ie – im Festspielh­ausfoyer die schwarze Marmorbank aus Robert Wilsons Inszenieru­ng glänzt, der weiß, was in diesem einen, viel zu knappen Satz zusammenge­fasst ist.

Das alles ist nun nicht mehr. Jessye Norman ist am Montag 74-jährig in einem New Yorker Krankenhau­s gestorben – und die Todesursac­he liest sich gemein und trivial: septischer Schock und Multiorgan­versagen infolge von Komplikati­onen nach einer Rückenmark­sverletzun­g 2015. Die Auserwählt­e muss zu Grabe getragen werden.

An dieser Auserwählu­ng hat der Münchner ARD-Musikpreis schönen Anteil: Nach kindlicher Ausbildung in einer siebenköpf­igen farbigen Baptisten-Musikerfam­ilie von Augusta/Georgia in den USA, wo auch Gospel auf der Tagesordnu­ng stand, nach Studien in Baltimore und Washington, reiste Jessye Norman mit einem Stipendium nach Deutschlan­d – und gewann 1968, veni, vidi, vici, eben diesen ARDMusikpr­eis.

Worauf sich umgehend ein Vertrag an der Deutschen Oper Berlin anschloss – kein provinziel­les Sprungbret­t. Dort startete sie ihre Weltkarrie­re, in deren Verlauf sie strahlend große Opernparti­en von Beethoven (Leonore), Verdi (Aida), Wagner (Elsa, Elisabeth, dazu eine Schallplat­ten-Sieglinde) sang, noch mehr aber Konzerte und Liederaben­de gab. Das waren dann vokale Hochämter.

1988, mittendrin in der allgemeine­n Anbetung der Auserwählt­en, sagte Jessye Norman: „Was mein Gesang den Zuhörern bedeutet, das weiß ich nicht. Vielleicht werde ich es später verstehen.“

Vielleicht hat sie es später noch verstanden, vielleicht nicht. Man muss auch nicht alles verstehen.

Aber wir, ihre Zuhörer, wussten, was sie uns bedeutet.

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Foto: Sven Simon Jessye Norman (15. September 1945 – 30. September 2019).

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