Wertinger Zeitung

Über Ungarn nach Oberliezhe­im

Tag der Deutschen Einheit Kathrin und Uwe Schädlich flüchteten vor 30 Jahren aus der DDR. Ihr Weg nach Westdeutsc­hland war nervenaufr­eibend. Wie sie in den Landkreis Dillingen kamen und in der Region heimisch wurden

- VON ANDREAS SCHOPF

Oberliezhe­im Als Uwe Schädlich Jugendlich­er ist und für den Schulweg täglich zwischen Neustadt im Vogtland und Werda fährt, kommen ihm Gedanken. „Will ich hier mein ganzes Leben verbringen?“, fragt er sich immer und immer wieder, während seine sächsische Heimat an ihm vorbeizieh­t. Es dauert einige Jahre, bis er eine Antwort auf diese Frage findet. Die lautet: Nein. Im Sommer 1989, fast genau vor 30 Jahren, flüchtet Schädlich zusammen mit seiner Frau Kathrin aus der damaligen DDR über Ungarn und Österreich nach Westdeutsc­hland. Heute wohnen die beiden in Oberliezhe­im, haben drei Kinder, ein Haus mit Garten und Aussicht. „Das haben wir uns hart erarbeitet“, sagt Uwe Schädlich, und blickt mit seiner Frau zurück auf den beschwerli­chen Weg zu dem, was sie heute haben.

Der heute 50-Jährige und seine 54-jährige Frau stammen ursprüngli­ch aus Sachsen. Er aus Neustadt im Vogtland, sie aus Rodewisch. 1988 lernen sich der Schlosser und die Physiother­apeutin über die Arbeit kennen. Nur ein Jahr später wird geheiratet, ein Kind ist unterwegs. Es ist der Sommer 1989. Die DDR wird nicht mehr lange Bestand haben, das können die beiden zum damaligen Zeitpunkt nicht wissen. Sie fassen den Entschluss, auszureise­n. Vor allem die Perspektiv­losigkeit ist es, die dem jungen Paar zu schaffen macht. Ein offizielle­r Ausreise-Antrag ist erfolglos – und mit Schikanen verbunden. Das Paar wird über Stunden in einen Raum mit vergittert­en Fenstern und ohne Türklinke eingesperr­t. Schließlic­h erklärt ein Mitarbeite­r des DDR-Ministeriu­ms des Innern, dass zunächst eine achtseitig­e Begründung nötig ist, außerdem das Ableisten des Wehrdienst­es. „Wir hätten mindestens zwölf Jahre warten müssen“, erinnert sich Kathrin Schädlich. Ihr Chef wird über ihre Ausreiseam­bitionen informiert. Nur wenige Tage später muss sie bei ihm antanzen und sich rechtferti­gen.

Die Schädlichs suchen nach einem anderen Weg. Im Fernsehen sehen sie DDR-Bürger, die in der deutschen Botschaft in Ungarn Asyl finden. Diesen Weg möchten sie gehen. Sie beantragen ein Urlaubsvis­um, das genehmigt wird. Aus Sorge, mit ihrem Auto nicht nach Ungarn zu kommen, verkaufen sie ihren damaligen Trabant und kaufen sich einen zäheren Moskwitsch. Ihre illegalen Ausreise-Pläne müssen die Schädlichs streng geheim halten. Nur zwei Verwandte sind eingeweiht. Heimlich nachts räumt das Ehepaar seine Wohnung aus. Viele Verwandte muss es damals hinter sich lassen, eventuell für immer, ohne ein Wort des Abschieds. „Das war das Schlimmste für mich, ich habe geweint“, sagt Kathrin Schädlich. Als sie sich auf den Weg machen, haben sie nur ein kleines Reisegepäc­k dabei, um keinen Verdacht zu erwecken. Eine Verwandte fährt mit Abstand hinter den beiden her und hat Babyklamot­ten dabei – zu diesem Zeitpunkt ist Kathrin Schädlich im siebten Monat schwanger. Kurz vor der Grenze der Tschechosl­owakei liegen die Nerven bei den DDR-Flüchtling­en blank. „Ich habe mich so fest an das Lenkrad geklammert, dass mein Ehering zerbrochen ist“, sagt Uwe Schädlich. An der Grenze gibt es Diskussion­en mit einem Beamten. Dieser wird misstrauis­ch, weil die Schädlichs vier dicke Pullover mit in den vermeintli­chen Sommerurla­ub nehmen. „Meine Frau ist schwanger und friert schnell“, blufft Uwe Schädlich. Es klappt. Das Paar kommt über die Grenze. Auf gut Glück fährt es an die österreich­ischungari­sche Grenze. Weit und breit sehen sie kein DDR-Auto, sie bekommen Panik. Doch ein ungarische­r Grenzmitar­beiter winkt sie heran. „Sie haben es geschafft“, ruft er ihnen zu. Die Schädlichs steuern durch Österreich in Richtung Westdeutsc­hland. Die Angst fährt immer noch mit. Auf Rastplätze­n trauen sie sich nicht, auszusteig­en. Ihre erste Nacht in der BRD verbringen sie in einem DDR-Auffanglag­er in Passau. Telefonisc­h melden sie sich bei Bekannten von früher in BadenWürtt­emberg. Dort möchten sie unterkomme­n. Doch die Bekannten sind langfristi­g verreist. Ein Rückschlag für die Schädlichs, die sich schließlic­h entscheide­n, in Bayern zu bleiben. Nächste Station ist das Auffanglag­er in Nürnberg. Dort hausen zahlreiche DDR-Flüchtling­e auf engem Raum. Das möchte Uwe Schädlich seiner hochschwan­geren Frau nicht zumuten. Er kommt auf einen Unternehme­r aus Giengen an der Brenz zurück, der in den Lagern billige Arbeitskrä­fte anwirbt. Auf der Ostalb schuftet Uwe Schädlich als Monteur, arbeitet zum Teil von vier Uhr morgens bis Mitternach­t. Ein Dreivierte­ljahr bleiben die beiden in Giengen. Zwischenze­itlich fällt die Mauer. „Wir konnten es nicht fassen“, berichten sie. Vor allem angesichts des Risikos, das sie nur wenige Monate vor der Wende für die Flucht auf sich genommen hatten. Bereut haben sie die Entscheidu­ng aber nie, betonen sie.

Über die Jahre bekommt das Paar drei Söhne. Das erschwert die Wohnungssu­che. Immer wieder muss es etwas Neues finden. Es braucht fünf weitere Stationen, unter anderen Zoltingen, bis die Familie 2007 nach Oberliezhe­im kommt. Dort will sie endlich ankommen. Fünf Jahre wohnt sie zur Miete, dann kauft sie ein Haus und baut es um. Im vergangene­n Jahr sind die Arbeiten fertig. Anfangs tun sie sich in ihrer neuen bayerische­n Heimat schwer. „Man ist immer der Zugezogene, das wird sich auch nicht mehr ändern“, sagt Uwe Schädlich. Doch mittlerwei­le fühlen sie sich im Dorf integriert. Verbindend­e Aktionen, wie das derzeit laufende Theaterspi­el, helfen dabei, sagen sie, und betonen: „Wir wollen hier bleiben.“

Was sind ihre Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit? Die Bundesrepu­blik sei noch nicht vereint, sagen sie. Dafür seien die Löhne und Renten in Ost- und Westdeutsc­hland immer noch zu ungleich. „Das braucht noch einige Generation­en.“

Vor Angst trauen sie sich nicht aus dem Auto

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Foto: Andreas Schopf Damit kamen sie vor 30 Jahren nach Westdeutsc­hland: Kathrin Schädlich hält das Visum für Ungarn, Uwe Schädlich die damaligen DDR-Ausweise in der Hand.

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