Wertinger Zeitung

Ein Schneider zerbricht unter der Last der Welt

Uraufführu­ng Ulf Schmidt hat für das Theater Ulm ein Stück zum 250. Geburtstag des abgestürzt­en Flugpionie­rs Albrecht Ludwig Berblinger geschriebe­n. Doch eigentlich geht es darin um Ungerechti­gkeiten in der Gegenwart

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Wer ist überhaupt dieser Bettler, der da im Kapuzenman­tel über die Bühne schleicht? Egal, es gibt in „Berblinger, Schneider“zu viel zu bereden, schließlic­h feiert Ulm den 250. Geburtstag des Flugpionie­rs Albrecht Ludwig Berblinger, der 1811 mit seiner Flugmaschi­ne vor den Augen tausender Zuschauer in die Donau stürzte. Ein „unfassbar geiler Typ“, findet der Unternehme­r, „Start und ab – Start-up!“. Für seine Gegenspiel­erin ist der „Schneider von Ulm“ein „armes Schwein, das mit den Flügeln schlagen musste, um nicht abzustürze­n, ein Leben lang“. Oder war er am Ende der klassische Aufsteiger, der sich seinen Weg nach oben bahnen wollte? Ein „tapferer Ulmer durch und durch“? Ein Faust? Ein Napoleon? Oder doch nur eine Witzfigur?

Jeder schneidert sich seinen eigenen Schneider in Ulf Schmidts Auftragswe­rk, das bei seiner Uraufführu­ng im Großen Haus mit respektvol­lem Applaus quittiert wird. Mit der Produktion eröffnet das Theater Ulm ein paar Monate verfrüht das Berblinger-Jubiläumsj­ahr, das 2020 unter anderem auch noch mit einem Ideenwettb­ewerb und einer „Langen Nacht der Innovation“gefeiert soll. Die Stadt Ulm hat sich dafür entschiede­n, dass Berblinger ein verkanntes Genie gewesen sei, ein verhindert­er Überfliege­r. Schmidt, der zuletzt als Co-Autor der in Dresden uraufgefüh­rten AfD-Groteske „Das Blaue Wunder“auffiel, packt hingegen so viel aktuellen Ballast in sein mit „Variatione­n über einen Freiheitst­raum“untertitel­tes Stück, dass dieses Mühe hat, die Flughöhe zu halten.

„Berblinger, Schneider“, inszeniert von Karin Drechsel, ist keine Fliegerges­chichte aus dem 18. und 19. Jahrhunder­t, sondern sozialkrit­isches Gegenwarts­theater – angereiche­rt mit historisch­en Texten. Schauplatz ist eine Stadthalle aus Beton (Ausstattun­g: Christine Grimm), in der Kellner (Rudi Grieser, Marie Luisa Kerkhoff, Christel Mayr, Benedikt Paulun, Nicola Schubert) Stehtische und Stühle auf- und wieder abbauen – im Kasernenho­fton auf Effizienz eingeschwo­ren von einem ArschlochC­hef (Frank Röder).

Doch in kurzen Monologen, zu denen ihre Gesichter groß auf die hintere Bühnenwand projiziert werden (Video: Alexander du Prel), offenbaren die Lakaien ihre Sorgen und Hoffnungen. Dass das Geld nicht für die Miete reicht, dass sie irgendwann studieren wollen, – dass sie nur in Träumen fliegen. Zwischen dem ganzen Stühleschl­eppen, Aufdecken und Aufwischen wechseln die Akteure in andere Rollen, kriegen sich als Diskussion­steilnehme­r in die Wolle, erzählen marschiere­nd Geschichte­n vom Krieg, kanzeln den armen Schneider ab. Natürlich ist der Bettler, dessen Mantel farblich an die Patina eines Bronzedenk­mals erinnert, Berblinger höchstpers­önlich. Oder zumindest sein Stellvertr­eter in der Gegenwart, denn eine eigene Stimme hat er nicht, die kommt vom Band.

Oben schweben die Reichen, das Bodenperso­nal muss um seine Freiheit kämpfen: Das ist die Grundbotsc­haft des Stückes, bei dem neben dem gut aufgelegte­n Ensemble auch eine chorisch sprechende Horde Schüler (die Theater-AG des NeuUlmer Lessing-Gymnasiums), ein Musiktrio und einige Statisten in Abendgarde­robe mitwirken. Innerhalb dieses Rahmens wird allerdings die gesamte Gegenwart verhandelt, es geht um prekäre Arbeitsver­hältnisse, Mietexplos­ion, Geschlecht­erwerden gerechtigk­eit, Lebensmitt­elverschwe­ndung, sogar die „Fridays For Future“blitzen kurz auf. Es ist eine große Last, die das Stück dem Schneider und dem Publikum aufbürdet, zumal die Gegenwarts­bezüge immer allgemein bleiben. Da spuken zwar Reinhard Mey, die „Höhle der Löwen“und „Deutschlan­d sucht den Superstar“durch den Text, aber Ulm konkret spielt keine große Rolle.

Doch die Inszenieru­ng schafft auch Momente, die anrühren und im Gedächtnis bleiben. Etwa nach der Pause, wenn die Feier auf der Bühne vorbei ist und der Saal sich in ein Schlachtfe­ld verwandelt hat. Die Kellner schnaufen erschöpft durch, während eine Videoproje­ktion und eine Stimme aus dem Off Berblinger­s eigene Erfahrunge­n während der verlustrei­chen Napoleonis­chen Kriege schildern. 19. und 21. Jahrhunder­t, ein Regimentss­chneider und ein paar Gastronomi­eaushilfen, die russische Kriegshöll­e und eine karge Stadthalle: Plötzlich finden diese Welten zusammen. „Berblinger, Schneider“bleibt der Absturz seines Titelhelde­n erspart.

Termine Wieder am 5., 10. und 12. Oktober. Weitere Termine bis Dezember und am 21. Mai 2020.

Im Mittelpunk­t stehen ausgebeute­te Kellner

 ?? Foto: Marc Lontzek ?? Die Ulmer Bürgerscha­ft (oben von links: Nicola Schubert, Benedikt Paulun, Marie Luisa Kerkhoff) hat kein Mitleid mit Albrecht Ludwig Berblinger.
Foto: Marc Lontzek Die Ulmer Bürgerscha­ft (oben von links: Nicola Schubert, Benedikt Paulun, Marie Luisa Kerkhoff) hat kein Mitleid mit Albrecht Ludwig Berblinger.

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