In der Lobby auf den Tod warten
Eugen Ruge Das packende Psychogramm einer unter Stalins Terror zweifelnden Agentin
Das Hotel Metropol gehört zu den besseren Adressen Moskaus. Schräg gegenüber dem Bolschoitheater gelegen, der Rote Platz nicht weit. Ein Jugendstilbau. Fünf Sterne. Kann man so lassen. Es ist ein Ort, der sich ganz wunderbar für einen Bond-Dreh eignen würde. Betuchte Gäste, internationales Ambiente, diskretes Personal, eine überaus gediegene Bleibe. Ein kleiner Werbeclip lässt einen heute gerne glauben, dass hier vieles Schöne möglich ist.
Es ist das „Metropol“, das Eugen Ruges neuem Roman seinen Namen gibt. Es geht darin um seine kommunistische Großmutter Charlotte, manchem bereits aus Ruges Bestseller „In Zeiten des abnehmenden Lichts“bekannt. Sie lebte in den 30ern in Moskau, arbeitete für den Nachrichtendienst (OMS) der Kommunistischen Internationalen und wohnte damals, quälend lange, in dem Hotel. Zwangsläufig. Einquartiert mit ihrem Lebensgefährten Wilhelm, der schon länger als sie für die Sowjets arbeitete und mit dem sie Deutschland den Rücken gekehrt hatte. Für die beiden und viele andere wird das Metropol zu einem Ort, an dem das Schlimmste wirklich wird.
Es ist die Zeit der Stalin’schen „Säuberungen“und Schauprozesse. Charlotte und ihr Partner, beide eigentlich bewährte Genossen, werden von einer Kollegin denunziert. Sie sollen einem „Volksfeind“, einem „trotzkistischen Banditen“, nahegestanden haben. Der Mann wird hingerichtet. Und wie viele weitere ihrer früheren Mitstreiter vom Nachrichtendienst sind sie auf einmal verdächtig. Der OMS war in den Jahren des Großen Terrors – weil stark mit Ausländern besetzt – besonders im Fokus des Volkskommissariats für Innere Anglelegenheiten (NKWD). Wer sich etwa des Trotzkismus verdächtig machte, lebte oft nicht mehr lange und wenn, dann sehr gefährlich. Die Partei quartiert im Roman viele der OMS-Leute nach und nach ins Metropol ein. Nichts Ungewöhnliches. Die noblen Moskauer Hotels waren von den Bolschewiki bereits vor Zeiten beschlagnahmt worden. Sie wurden zu „Häusern der Sowjets“. Nr. 1, das National (wo Lenin seinerzeit abstieg). Nr. 2, das Metropol. Seine Lobbys, Restaurants und Gänge werden knapp 20 Jahre nach dem roten Oktober für viele der Revolutionäre zu Wartezimmern ihres Todes.
Das – im Wortsinne – Irre an Ruges Geschichte ist, dass sie so ziemlich wahr ist. Das Setting des Romans hätte alles für einen klischeesatten Agentenplot. Und Ruges
„... wer etwas glauben will, der findet einen Weg!“
Oma war zu allem literarischen Überfluss auch noch bildschön. Ihr Deckname: Lotte Germaine. Aber auf den Agenten-Trip kommt man erst, wenn man fertig gelesen hat, begreift, was für ein ergiebiger Erzählstoff die Kaderakte von Ruges Großmutter ist und versucht, seine – ob ihres Schicksals – grauen Gedanken zu vertreiben.
Ruge hat zum Glück keinen Spionageroman, sondern das Psychogramm einer zweifelnden Gläubigen geschrieben, die auf mehr als eine kafkaeske Probe gestellt wird. Denn Charlotte und ihr Partner sind Überzeugungstäter. Was Stalin exekutieren lässt, die „Säuberungen“, halten sie zunächst einmal für richtig und notwendig. Sie nehmen sich selbst ins sozialistische Gebet.
In einem in Charlottes Kaderakte enthaltenen Brief, mit dem sie sich bei ihren Vorgesetzten für die Nähe zu besagtem trotzkistischen Volksfeind – er heißt Alexander Emel – rechtfertigt, heißt es zum Schluss: „Ich muss sagen, dass es mir ganz unmöglich war, hinter seine glatte Doppelzüngigkeit zu kommen. Aber ich will die Lehre daraus ziehen, dass erstens ein Parteiarbeiter in der Auswahl seiner persönlichen Bekannten größeres Misstrauen walten lassen muss, und zweitens, dass ich viel ernsthafter und gründlicher die Geschichte der Bolschewistischen Partei studieren muss, um dadurch meine Klassenwachsamkeit auf ein höheres Niveau zu heben.“Je mehr ihrer alten Kollegen allerdings nach monatelangem, zermürbendem Warten nachts aus dem Metropol geschleppt werden, desto fraglicher sind die alten Gewissheiten. Es ist die „Ratte“des Zweifels, die an ihren Überzeugungen nagt.
Hätte Ruge einfach entlang der überlieferten Fakten erzählt, hätte er als Form einfach die Dokumentation dieser wahnsinnig machenden Schicksale gewählt, das allein hätte sicher auch getragen. Allerdings wären einem die Hauptfiguren wohl distanziert geblieben. Charlotte kommt man erst durch die Blicke in ihre Gedankenwelt so nahe. Sie ist vielschichtig und fein gezeichnet. Auch die ihren Systemzweifeln letztlich erliegende Denunziantin, Hilde Tal, erschließt sich mit ihren Wendungen sehr. Etwas zu breit konturiert allerdings ist die Figur des Vorsitzenden des Militärkollegiums des Obersten UDSSR-Gerichts, Wassili Ulrich, geraten (fett, eher impotent, von Flatulenzen geplagt). Dabei lässt Ruge ihn zentrale Sätze sagen: „Nein, der Glaube der Menschen hängt nicht von Fakten ab, nicht von Beweisen. (...) wer etwas glauben will, findet einen Weg! Er wird sich durch den winzigen Spalt quetschen, den die Wahrheit ihm lässt. Wird die Dinge so lange drehen und wenden, bis sie wieder in seinen Glauben hineinpassen, und seine ganze Klugheit wird ihn nicht etwa daran hindern, sondern ihm dabei noch behilflich sein.“
Eugen Ruge wertet wenig, er beschreibt, wie seine Protagonisten sich in schwierigsten Zeiten ihre Wahrheit, ihren Glauben zurechtquetschen. Gerade das macht seinen Roman so lesenswert.