Eine Stadt verdrängt Ausflug in ein mysteriöses Gebiet
Raphaela Edelbauer
Ein Todesfall ist eingetreten. Plötzlich sind bei einem Verkehrsunfall beide Eltern der jungen Wiener Physikerin Ruth ums Leben gekommen. Ihr letzter Wille war es, in Groß-Einland beerdigt zu werden. Aber wo liegt dieser Ort? Straßenkarten verzeichnen ihn nicht. Also kramt Ruth all ihre Erinnerungen zusammen, um den Herkunftsort ihrer Eltern in einer mental map zu rekonstruieren.
Die junge österreichische Autorin Raphaela Edelbauer beginnt ihren Debütroman „Das flüssige Land“mit einem höchst merkwürdigen Setting. Und so mysteriös und abstrus wird es 350 Seiten lang weitergehen. Wie seine Protagonistin saugt dieser Roman auch seine Leser förmlich ein, das dunkle Geheimnis von Groß-Einland zu lüften. Doch alles in diesem verschrobenen Städtchen braucht seine Zeit. Viel Zeit.
Zunächst staunen wir mit Ruth über die eigenartigen Zustände in Groß-Einland. Alle Wirtshäuser sind voller Gäste, aber sie vergeben keine Zimmer. Dazu sei eine Genehmigung der Gräfin erforderlich. Sie regiert von ihrem Schloss aus die ganze Stadt mit einer Allwissenheit, die frösteln macht. Sie dirigiert den Stadtrat. Ihr gehören auch alle Häuser der Stadt. Sie vergibt Kredite, sodass alle Bürger von ihrem Wohlwollen abhängig sind. Obwohl sich Ruth anfangs sträubt, tritt auch sie in die Dienste der Gräfin.
Denn da gibt es noch ein Rätsel in Groß-Einland: Die gesamte Stadt droht, allmählich in einem gewaltigen Stollensystem unter ihr zu versinken. Überall werden die Spuren dieses unheimlichen Untergangs sichtbar – und nach Kräften sofort wieder vertuscht. Über „das Loch“redet man mit gedämpfter Stimme, als wär’s ein schlafender Drache, der jederzeit wütend erwachen könnte. „Das Loch war von unbekannter Tiefe, Verästelungen und Feuchtigkeit. Es zog sich wie ein unterirdisches Myzel unter den Bergkuppen und Siedlungen durch, brach in Röhrchen und Netzen an die Oberfläche und schob kontinentaldriftartig das Erdreich zu grobkörnig atmenden Halden zusammen, unter denen der faulige, pilznetzige Verfallsprozess sich eingenistet hatte.“
Ruth, die Physikerin, sollte ein Füllmittel entwickeln, das der Stadt wieder zu Stabilität verhilft. Doch ihr Spezialgebiet ist die Zeit und sie nimmt wunderliche Dinge wahr. Schon auf der Fahrt nach Groß-Einland schien es ihr, als steige das Land unter ihr wie eine flüssige Masse auf. Raum und Zeit amalgamieren für sie, nichts ist mehr verlässlich, es vermengen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
In Groß-Einland sowieso. Die Stadt führt ihr Schicksal auf den Pergerhannes zurück, eine mythische Gestalt. Er verstand sich auf die Gerberei, las Bücher und drang auf der Suche nach Schätzen immer tiefer in den Berg unter der Stadt ein. Ein Menschenschinder sei er dabei gewesen. So wie die Hitler-Schergen, die 350 Jahre später hier ein unterirdisches Flugzeugwerk für die Rüstung einrichteten. 800 Zwangsarbeiter soll das Loch kurz vor ihrer Befreiung noch verschlungen haben. Ruth vergräbt sich ins Archiv, findet immer mehr Schauerliches heraus. Sie ahnt, dass in dem Loch, das sie unwiederbringlich verfüllen soll, noch viel mehr verschwunden ist und alle in Groß-Einland dabei beteiligt waren.
Raphaela Edelbauer schreibt ihren Roman so getrieben, wie Ruth nach Spuren sucht. Sie flicht Anekdoten ein, verwickelt Ruth in die Fänge der Gräfin, spinnt naturwissenschaftliche Theorien, raunt die alten Schauermärchen. Doch über alles gießt die Erzählerin in dieser Parabel auf das kollektive Verdrängen eine klebrige Schicht, als wäre alles nur ein fantastisches Hirngespinst. Ruth kann nichts beweisen. Nicht einmal, dass Groß-Einland überhaupt existiert. Alois Knoller