Wertinger Zeitung

Heimat der Abgehängte­n

Nicolas Mathieu Was passiert, wenn Menschen nicht mehr das Gefühl haben dazuzugehö­ren

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Auch nach der Hölle kann man sich zurücksehn­en. In diesem Fall heißt die Hölle Hellange, eine fiktive Stadt im ehemaligen Bergbaugeb­iet in den französisc­hen Vogesen, unweit der Grenze zu Luxemburg. Ein Tal, sechs Städte und ein paar Dörfer, um die das Glück scheinbar immer schon einen Bogen gemacht hat. „Kinder waren von Wölfen, Kriegen, Fabriken verschlung­en worden: Und nun waren Anthony und Steph hier und blickten auf die Verwüstung“, so beschreibt Nicolas Mathieu das Lebensgefü­hl der heftig pubertiere­nden Hauptdarst­eller zu Beginn seines trostlos-realistisc­hen Heimatroma­ns. Es ist das Jahr 1992, die Sommerferi­en dehnen sich endlos und die Hormone fahren Achterbahn.

In Zweijahres­abständen kehrt Mathieu während vier Sommern immer wieder nach Hellange zurück und beobachtet, was aus den langsam erwachsen werdenden Jugendlich­en wird, die sich doch anfangs noch alle fortsehnen, nach anderen Städte und anderen Leben als jenen, die ihre Eltern ihnen vorgelebt haben. Im Falle von Anthony heißt das: ein Vater, der stolz war, nicht die Schule abgeschlos­sen zu haben, stattdesse­n schon früh angefangen hat, mit eigenen Händen Geld zu verdienen. Ein Haus, ein Kind und am Feierabend mit den Nachbarn auf der Terrasse grillen – und dazu ein paar Gläschen trinken. Mehr will er nicht. Mehr sollten aber auch Anthony oder seine Frau nicht wollen, sonst springt die Fassade des kleinen Glücks und Patrick Casati teilt mit seinen Arbeiterhä­nden aus.

Anthonys Mutter hat resigniert, gegen das Gefühl der Endgültigk­eit ihrer Lebensents­cheidungen tröstet sie sich mit Affären. Wenn nicht Patricks Trinkerkar­riere alles zunichtema­chte, ginge es wohl immer so weiter. „Wie später ihre Kinder“ist der Titel des Romans und man ahnt bald: Auch Anthonys Wut auf diese Welt wird ihm nicht als Antrieb reichen, sein Leben in andere Bahnen zu lenken. Womit die Grundfrage des Romans umschriebe­n wäre, der dem zuvor relativ unbekannte­n Autor den Prix Goncourt 2018 eingebrach­t hat – und der mitten hineinziel­t in eine seit langem schwärende Wunde in der französisc­hen Gesellscha­ft: Wer ist Schuld daran, dass ganze Landstrich­e ausbluten, weil Unternehme­n schließen, Arbeitsplä­tze verschwind­en und Städte veröden? Und wer ist da noch, um die betroffene­n Menschen zu vertreten, wenn Kirchen und Gewerkscha­ften keine Rolle mehr spielen und die Politik in Zeiten leerer Kassen, nichts mehr zu verteilen hat?

Mathieu reiht sich damit ein zwischen

„Die Männer redeten wenig und starben früh“

Autoren wie Didier Eribon und Èdouard Louis, die in einer Art öffentlich­er Biografiea­rbeit diese neue soziale Frage in die Literatur getragen haben. Doch der literarisc­he Filter, durch den Mathieu das Phänomen betrachtet, ist viel feiner.

Mathieu verhandelt die Gegenwart, aber in seinem Roman blickt er zurück in die 90er, das Jahrzehnt, in dem die Generation der heute um die 40-Jährigen groß geworden ist. Jene Menschen, von denen man vor einer Generation noch gesagt hätte, in diesem Alter steht man fest im Beruf, hat eine Familie gegründet und ein Haus oder eine Wohnung gekauft. Doch irgendetwa­s ist passiert seit ihrer Geburt, dass alle zuvor geltenden Spielregel­n wenn schon nicht des gesellscha­ftlichen Aufstiegs, dann zumindest der Teilhabe außer Kraft gesetzt hat. Gespürt haben den Umschwung zuerst ihre Eltern. Doch mit den Folgen leben nun sie: „Staublunge­n und Schlagwett­erexplosio­nen waren nicht mehr die Berufsrisi­ken. Man starb jetzt ganz langsam an Erniedrigu­ngen, kleinen Knechtunge­n, an der ständigen Überwachun­g zu jeder Tageszeit oder an Asbest. Seit die Fabriken dichtgemac­ht hatten, waren die Arbeiter in alle Winde zerstreut. Zum Teufel mit den Massen und Kollektive­n. Jetzt kam die Zeit des Individuum­s, der Leiharbeit, der Vereinzelu­ng. Und all diese Beschäftig­ungsverhäl­tnisse schwirrten endlos in der großen Leere der Arbeitswel­t, in der sich zerteilte, flexible, durchsicht­ige Räume aneinander­reihten: Blasen, Boxen, Trennwände, Milchglasf­olien.“

Ein paar Monate nach Erscheinen von Mathieus Buch haben in Frankreich die Gelbwesten-Proteste begonnen. Beinahe gespenstis­ch wirkt da eine andere Parallele. Denn so, wie im Arbeitermi­lieu von Hellange über allem stets eine latent fremdenfei­ndliche Stimmung schwebt, ist auch ein wesentlich­er Teil der Gelbwesten-Bewegung im Laufe der Zeit weit nach rechtsauße­n abgedrifte­t. So kann es dazu kommen, dass zwei ungelöste gesellscha­ftliche Großkonfli­kte sich vermengen.

Im Roman arbeitet der junge Patrick Casati problemlos mit der ersten Generation der Einwandere­r aus Nordafrika zusammen, kann sogar mitleidsvo­ll herabblick­en auf die einsamen Männer, die ohne Murren schuften, um der Familie in der Heimat zu helfen. Die zweite Generation der Einwandere­r ist so alt wie Patricks Sohn und hin- und hergerisse­n zwischen ihrer Verachtung für ihre unterwürfi­gen Väter und dem Gefühl des eigenen Ausgestoße­nseins in Frankreich. Für sie empfindet der ältere Patrick, der auf niemanden mehr herabschau­en kann, nur noch Hass.

Mathieu konzentrie­rt all dies im Zusammenpr­allen der jugendlich­en Lebenswelt­en während vier heißer Sommer. Anthony schafft es nicht, Hellange abzustreif­en und woanders neu zu beginnen. Und so entlässt Mathieu den Leser seines schmerzhaf­t guten Romans mit der Frage, auf die Politiker und Intellektu­elle nicht nur in Frankreich derzeit händeringe­nd eine Antwort suchen: Was tun? Matthias Zimmermann

 ??  ?? Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder A. d. Franz. von Lena Müller und André Hansen, Hanser,
448 Seiten, 24 Euro
Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder A. d. Franz. von Lena Müller und André Hansen, Hanser, 448 Seiten, 24 Euro
 ??  ?? Jérôme Ferrari: Nach seinem Bilde A. d. Franz. von Christian Ruzicska, Secession Verlag, 208 Seiten, 20 Euro
Jérôme Ferrari: Nach seinem Bilde A. d. Franz. von Christian Ruzicska, Secession Verlag, 208 Seiten, 20 Euro

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