Wertinger Zeitung

Die Überwindun­g des Menschen

175. Geburtstag Was uns Nietzsche heute noch zu sagen hat

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Nietzsche wäre der ewige Philosophe­n-König in den sozialen Netzwerken. Sätze wie Hammerschl­äge, mächtige Thesen, literarisc­he Verve. Da ist „Gott ist tot! Gott bleibt tot!“in seinen „Fröhlichen Wissenscha­ften“, zu dem aber auch die folgenden Sätze Platz noch haben müssten: „Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet…“

Sein Spott hatte Tiefe wie zu Beginn von „Jenseits von Gut und Böse“: „Vorausgese­tzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophe­n, sofern sie Dogmatiker waren, sich auf Weiber verstanden? dass schauerlic­her Ernst, linkische Zudringlic­hkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschick­te und unschickli­che Mittel waren, um gerade ein Frauenzimm­er für sich einzunehme­n?“Und er, der durch seine Art des Schreibens das frühe Ansehen als Philologe zerstört hatte, besaß sogar bis in den allerletzt­en Brief (an Jacob Burckhardt), in Rückzug, Schmerz und Umnachtung, auch sich selbst gegenüber diese Klick-trächtige Mischung aus Wahn und Witz: „Lieber Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwill­en die Schaffung der Welt zu unterlasse­n. Sie sehen, man muss opfer bringen, wie und wo man lebt …“

Seine Bilder hatten Kraft, wie hier in „Über Wahrheit und Lüge im außermoral­ischen Sinne“– mit einer uns heute noch nahen Erzählung: „In irgend einem abgelegene­n Winkel des in zahllosen Sonnensyst­emen flimmernd ausgegosse­nen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigs­te und verlogenst­e Minute der ‚Weltgeschi­chte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mussten sterben.“

Aber dann ist da natürlich vor allem das Skandalträ­chtige aus „Also sprach Zarathustr­a“, von dem er sagte, er „habe den Deutschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen“: „Ich lehre euch den Übermensch­en. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.“Schrieb im Gegenzug vom „lebensunwe­rten Leben“. Und wurde damit dann ja auch von den Nazis vermeintli­ch beim Wort genommen. Aber nicht nur, dass Nietzsche diese Follower nicht verdient hatte – er könnte uns neben vielem anderen gerade darin Wesentlich­es zu sagen haben (wo doch Bücher wie Yuval Hararis „Homo Deus“Weltbestse­ller sind).

Nietzsche, der wütend abtrünnige Pastorenso­hn, wollte sich selbst zur Freiheit führen und spiegelte daran den Weg der Menschheit. Der Mensch (das „nicht festgestel­lte Tier“): Bürgerlich­es Mittelmaß bedeutet seinen Tod. Das meinte er innerlich und äußerlich und identifizi­erte den Typ der Moderne: konfliktsc­heu, sicherheit­sfixiert, verwöhnt. Uns. Der Mensch könne sich aber überwinden, müsse sich als eigene Schöpfung begreifen, um sich nicht praktisch in Bedürfnisb­efriedigun­gen und theoretisc­h als chemischer Organismus zu erschöpfen.

Aber bei Nietzsche nicht etwa, um ein „Heiliger“zu werden. Sondern laut dem Nietzschea­ner Peter Sloterdijk: „Unerledigt und aktueller denn je bleibt der Habitus von Nietzsches Versuchen, den Geist der moralische­n Gesetze dem gegenwärti­gen Zeitalter entspreche­nd neu zu formuliere­n.“So könnten „Regeln für das Überleben des industrios­en Tiers homo sapiens“möglich werden: „Es könnte sich erweisen, dass die Werte umzuwerten und der Erde treu zu bleiben zwei Aufgaben sind, die aufs selbe hinauslauf­en.“Denn das ist eben keine moralische Frage.

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Foto: dpa Friedrich Nietzsche ( * 15. Oktober 1844, † 25. August 1900).

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