Wertinger Zeitung

Goodbye, my Love! Eine Abschiedst­our auf der Insel

England Eine Nation kehrt Europa den Rücken. Der Brexit rückt näher. Wer weiß schon, wie es danach wird

- / Von Barbara Würmseher

Eigentlich fühlt sich England an wie immer. Als wir mit der Fähre nach Dover übersetzen, empfängt uns die weiße Steilküste im weichen Licht des Spätnachmi­ttags. Hoch oben thront die Burg – wie ein Gruß hinüber ans europäisch­e Festland. Unsere Vorfreude wächst. Und spürbar ist nichts anders als in früheren Jahren, wenn wir Großbritan­nien besucht haben. Und doch ist es unsere ganz persönlich­e Brexit-Abschiedst­our. Sie steht unter dem Eindruck der Schlagzeil­en der vergangene­n Monate. Wird England für uns als Touristen nach dem 31. Oktober anders sein? Und wenn ja, wie?

Vorerst haben wir keine Zeit, zu spekuliere­n. Auf englischem Boden angekommen, befolgen wir den Rat eines Uniformier­ten, der uns augenzwink­ernd wünscht: „Vergessen Sie nicht, links zu fahren.“Wir konzentrie­ren uns also auf die ungewohnte Straßensei­te, auf die vielen Kreisverke­hre, die es in abenteuerl­ichen Varianten gibt. Zu zweit im links gesteuerte­n Auto schlängeln wir uns waghalsig durch den Feierabend­verkehr.

60 Meilen sind es bis zu unserem ersten Quartier in Maidstone in der Grafschaft Kent. Dort erwarten uns unsere Wirtsleute Rose und Andy. Wir unterhalte­n uns wie alte Freunde, erfahren, dass die Enkelin Geburtstag feiert, bekommen Fotos zu sehen und – am nächsten Morgen – ein wundervoll­es „Full English Breakfast“. Nie schmeckt es besser als am ersten Urlaubstag: Speck, Eier, Würstchen, Pilze, Tomaten und Bohnen duften verführeri­sch. Wir langen zu und es verschlägt uns auch nicht den Appetit, als die Sprache auf Boris Johnson kommt.

Rose rollt mit den Augen. „Ich halte ihn für kriminell“, sagt sie. „Ich habe Angst davor, was kommt. Auch Angst, dass es nicht mehr genug zu essen gibt. Viele Menschen legen Vorratsdep­ots an.“Rose befürchtet eine wirtschaft­liche Schieflage, glaubt, dass das Britische Pfund an Wert verliert. Sie ist nicht gut auf ihre Regierung zu sprechen. Und vor allem ist sie es leid, dass sich die Diskussion so in die Länge zieht: „A never ending story.“Das ist es auch, was wir bei allen Briten feststelle­n, mit denen wir ins Gespräch kommen. Sie sind der zähen Verhandlun­gen überdrüssi­g und schämen sich für ihre Politiker.

Nach dem Frühstück ist Aufbruch. Wir haben unsere Route nur grob abgesteckt, wollen uns treiben lassen. Einmal quer durch Südengland soll es gehen. Große Städte und Menschenma­ssen meiden wir. Es sind Naturerleb­nisse, die wir suchen: Gärten, Meer, Nationalpa­rks, Abgeschied­enheit und Begegnunge­n mit Einheimisc­hen.

Ein Abstecher auf dem Weg nach Salisbury führt uns zur Mottisfond Abbey, einem einstigen Augustiner­Kloster. Wir gewöhnen uns zunehmend an den Linksverke­hr. Das stattliche Anwesen liegt malerisch eingebette­t in einem Landschaft­spark mit Bachlauf und altem Baumbestan­d. Wir treffen dort John aus Wales. Beim Stichwort Brexit winkt er ab. „Ich glaube, die wissen nicht, was sie tun! Kein Mensch hat eine Ahnung, was kommen wird.“Mehr Gesprächsb­edarf hat er zu diesem Thema nicht.

Unweit von Salisbury liegt Stonehenge, jener mystische Steinkreis aus prähistori­scher Zeit. Es sind nur ein paar Kilometer Fußweg, die das Besucherze­ntrum von der Kultstätte trennen. Während sich Warteschla­ngen an den Shuttlebus­sen bilden, laufen wir und bereuen es nicht. Wir nähern uns auf diese Weise langsam und voller Respekt dieser Stätte, die so viel geheimnisv­olle Würde ausstrahlt.

Lange können wir nicht bleiben, denn es gilt, noch etliche Meilen zurücklege­n. Während Autobahnen und die halbwegs komfortabl­en A-Roads oft nur selten Blicke auf die Landschaft zulassen, sind die B-Roads idyllische­r und meist wenig befahren. Dafür in Breite und Qualität ein echtes Abenteuer. Das bekommt auch unser rechter Außenspieg­el zu spüren, als er in der Begegnung mit einem Postauto den Kürzeren zieht. Dennoch bevorzugen wir diese kleinen Straßen, um möglichst viele Eindrücke zu gewinnen. Bäume beiderseit­s der Straße bilden mit den Wipfeln Dächer wie die gotischen Kathedrale­n. Wir können uns gar nicht sattsehen. Dann wieder sind es Wiesen und Felder, auf denen Mauern und Hecken typische geometrisc­he Muster zeichnen.

Wir durchstrei­fen einen Zipfel des Exmoor-Nationalpa­rks, als unser Sprit bedenklich zur Neige geht. Die weit und breit einzige Tankstelle liegt in Blackmoor Gate. Dort gibt es das, was wir brauchen und noch gratis obendrauf die Meinung der freundlich­en Betreiberi­n zum Brexit. „Ich bin extrem gelangweil­t von der ganzen sagt sie. Aber ich finde den Brexit notwendig, weil so viele Menschen als Sozialschm­arotzer hierher kommen und Geld vom Staat kriegen.“Sie wünscht sich ein Punktesyst­em für Einwandere­r wie etwa das in Australien. Dort gibt es Arbeitsvis­a für Menschen in den Berufen, die auf dem Arbeitsmar­kt am dringendst­en gesucht werden.

Wir verabschie­den uns und streifen weiter durch die malerische Landschaft. Wir kommen in die ZwillingsO­rtschaften Lynton und Lynmouth, von denen Lynton oberhalb der Steilküste liegt und einen atemberaub­enden Blick auf den Bristol-Kanal freigibt. Beinahe kann man die walisische Küste auf der anderen Seite erahnen. Lynmouth, am Fuß der Steilküste gelegen, erreicht man über einen steilen Pfad. Dort unten erwartet einen die typische Kulisse eines Fischerort­s mit seinen Booten und Pubs, aus denen verlockend­er Duft nach Cornish Pasties strömt. Und überall liegt das Ge

Was für ein toller Blick auf den Bristol-Kanal...

lächter der Möwen in der Luft. Es ist das Geräusch, das uns ständig an der Küste begleiten wird.

Von hier aus ist es nur ein Steinwurf zum „Valley of the Rocks“. Wer dort wandert, spürt die Schönheit der urwüchsige­n Landschaft. Zwischen schroffen Felsen schlängeln sich schmale Pfade entlang der Steilküste, die tief nach unten abfällt und mit dem blauen Wasser der Keltischen See ein spektakulä­rer Anblick ist. Auf den kargen Böden blüht selbst im Spätsommer leuchtend gelber Ginster und wer Glück hat, trifft auf wilde Ziegenherd­en. Im 17. Jahrhunder­t hatte die Küstenwach­e einen Weg geschlagen, um gegen Schmuggler vorgehen zu können. Heute freuen sich Wanderer über diese gut 1000 Kilometer lange Strecke, die als South West Coast Path Großbritan­niens längster ausgeschil­derter Fernwander­weg ist.

In Barnstaple übernachte­n wir im Poplars B&B, wo uns anderntags George (76) am Frühstücks­tisch geDiskussi­on“, genüber sitzt. Nach dem Austausch von Höflichkei­ten kommen wir rasch zum Thema, das ihm spürbar am Herzen liegt und erneut die Schlagzeil­en beherrscht: Auf dem Titel der Boulevardz­eitung „Sun“prangt das Konterfei von Opposition­sführer Jeremy Corbyn als Hühnerkopf. Premiermin­ister Boris Johnson hatte ihn „Chicken“(Feigling) geschimpft. „Ich habe damals für den Verbleib Großbritan­niens in der EU gestimmt“, verrät George. „Weil ich als Unternehme­r ein Möbelgesch­äft hatte. Ich hab um die guten Geschäftsb­edingungen gefürchtet.“Von der Abwicklung des Brexits auf politische­r Ebene ist er entsetzt. „Das ist ein Fiasko“, meint der kultiviert­e ältere Herr. „Aber ich denke dennoch, der Brexit wird funktionie­ren.“

Auch die nächsten Etappen erfüllen ganz und gar, was wir uns von Südengland erhofft haben: Viele Dörfer und Städtchen in Devon und Cornwall gleichen einander auf bezaubernd­e Weise. Bude, Tintagel, Newquay, St. Ives, Porthleven ... weisen alle den Charme malerische­r Fischerort­e auf mit ihren bunten Booten in den Häfen und den pittoreske­n Häuserkuli­ssen.

Wir streifen durch Gärten wie die „Lost Gardens of Heligan“, die über Jahrzehnte zugewucher­t sind und nun aus dem Dornrösche­nschlaf befreit werden. Wir sind fasziniert vom futuristis­ch anmutenden „Eden Project“, bei dem unter riesigen Glaskuppel­n exotische Pflanzen gedeihen. Und wir genießen die einsame Wanderung durchs Dartmoor, um „Wistman’s Wood“zu finden, ein Waldstück das mit knorrigen Baumstämme­n und moosbewach­senen Felsbrocke­n wie aus einer anderen Welt wirkt. Auch „Land’s End“, der westlichst­e Punkt Englands liegt auf unserer Route und wir erklimmen ihn über den wildromant­ischen South West Coast Path.

„Land’s End“selbst ist unspektaku­lär: Es sieht dort nicht viel anders aus als viele Kilometer Küste davor und danach. Ein Touristenc­enter lockt die Massen dorthin. Als wir genug Seeluft inhaliert haben, beginnt es zu dämmern und wir erliegen der Versuchung, den Bus zu nehmen, anstatt zurückzuwa­ndern. Zehn Minuten dauert es bis zur Abfahrt – Zeit genug, mit einem Ehepaar ins Gespräch zu kommen. Und auch da ist auch das Thema Brexit nah. Die 72-jährige Lady ist nicht gut auf die EU zu sprechen. Sie fühlt sich von ihr bestohlen. „Ich bin für den Austritt“, sagt sie.

„Wir Briten waren immer Inselbewoh­ner“

„Wir werden als Land immer ärmer wegen der Gebühren, die wir an die EU bezahlen. Und auch die Immigrante­n nehmen uns etwas weg.“Dass die EU auch Unterstütz­ung leistet, die gerade struktursc­hwachen Regionen zugute kommt, lässt sie nicht gelten. Unterschie­dliche Meinungen, große Herzlichke­it: Wir trennen uns fast als Freunde und haben lange das Bild der Lady vor Augen, die uns lächelnd aus dem Busfenster nachwinkt.

Auch Bob (58), über den wir im „Navy Inn“in Penzance stolpern, ist froh über den Brexit. Eigentlich sind wir nach ein paar Bieren gerade am Gehen, doch am Tresen verwickelt er uns noch in ein Gespräch, muss einfach loswerden, was ihm auf dem Herzen liegt: „Unser Land gibt zu viel Geld für soziale Belange aus. Aus Osteuropa kommen Menschen hierher, um zu arbeiten, aber stattdesse­n leben sie nur von unseren Sozialleis­tungen“, sagt er. Am Ende stellt er fest: „Wir Briten waren nie wirklich Europäer! Wir waren immer Inselbewoh­ner!“

Der New Forest in Hampshire ist eine unserer letzten Stationen. Noch einmal lassen wir uns von urwüchsige­r Vegetation begeistern und von ganz besonderer­n Begegnunge­n: Rund 7000 Ponys laufen dort frei herum. Eine halbe Semmel findet sich in meiner Jackentasc­he und so mache ich mir schneller, als mir lieb ist, zwei vierbeinig­e, reichlich hartnäckig­e Freunde.

24 Stunden später heißt es, Abschied nehmen. Wir stehen am Fährhafen in Dover in der Warteschla­nge. Es herrscht keine Eile und der Mann am Schalter hat Lust auf einen Ratsch. Vor ihm liegt eine zusammenge­faltete Zeitung. Es deprimiert ihn, sie aufzuschla­gen. „Ich möchte nicht mehr jung sein“, sagt er. „Wir leben in der bestmöglic­hen Welt. Spätere Generation­en werden es schwer haben.“Den Brexit findet er völlig falsch: „Wir sind eine Einheit. Es macht nicht den geringsten Sinn, daraus auszubrech­en!“Wir nicken zustimmend, verabschie­den uns und rollen mit dem Auto gemächlich auf die Fähre, die uns zurückbrin­gt. Nach Europa. Ob wir wiederkomm­en werden?

Was Reisende über den Brexit wissen müssen, lesen Sie auf Seite 2 des ReiseJourn­als.

 ?? Fotos: Barbara Würmseher ?? England-Impression­en (oben von links): die Steilküste von Dover mit Dover Castle, das geheimnisv­olle Waldstück „Wistman’s Wood“im Dartmoor, die Überreste des Steinkreis­es von Stonehenge (unten von links): „St. Michael’s Mount“an der Küste Cornwalls, das „Eden Project“– Gärten unter Glaskuppel­n – und der westlichst­e Punkt Englands, „Land’s End“.
Fotos: Barbara Würmseher England-Impression­en (oben von links): die Steilküste von Dover mit Dover Castle, das geheimnisv­olle Waldstück „Wistman’s Wood“im Dartmoor, die Überreste des Steinkreis­es von Stonehenge (unten von links): „St. Michael’s Mount“an der Küste Cornwalls, das „Eden Project“– Gärten unter Glaskuppel­n – und der westlichst­e Punkt Englands, „Land’s End“.
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