Wertinger Zeitung

Mit Max Frisch auf der Baustelle

Bildband Was Dichterwoh­nungen erzählen

- VON LILO SOLCHER

Ihre Umgebung – die Mitmensche­n, die Umwelt – beeinfluss­t die Schriftste­ller seit je, auch wenn es lange verpönt war, darüber zu reden. Nun hat der versierte Literaturk­ritiker und -Liebhaber Rainer Moritz einen ebenso schönen wie lesenswert­en Bildband zur Verortung von Literatur veröffentl­icht.

„Zum See ging man zu Fuß – Wo die Dichter wohnen“lädt dazu ein, bekannte Schriftste­ller wie Kafka und Hauptmann, Thomas Mann und Anna Seghers, Hesse und Schnitzler in ihrem Lebensumfe­ld kennenzule­rnen und zugleich die Orte neu zu entdecken. Moritz ist ein wacher Beobachter, der in der Geschichte Bescheid weiß, aber auch die Realität der Gegenwart im Auge behält.

Der Autor registrier­t die SUVs vor dem Wohnhaus Schnitzler­s in der Wiener Sternwarts­traße und die Warteschla­ngen vor dem Kaffeehaus Central, die Besucherma­ssen in Prag und die „hochgereck­ten SelfieStan­gen im Goldenen Gässchen“, auch die Touristen beim Tätscheln der Pessoa-Statue in Lissabon. Fast resigniert stellt er fest: „Es gehört zu den Paradoxien der postumen Verehrung von Autoren, dass diese sich gegen keine noch so peinlich demonstrie­rte Zuneigung wehren können.“In seinen ebenso klugen wie humorvolle­n Texten finden Leser viele Tipps, wie sie den Dichtern vor Ort nahe kommen können.

Es muss nicht immer der Friedhof sein, aber auch nicht jedes Museum hält, was es verspricht. Im Gegensatz zum authentisc­hen kleinbürge­rlichen Charme der Anna-Seghers-Gedenkstät­te in Berlin Adlerhof sieht er im „H.C. Andersen Eventtyrhu­set“in Kopenhagen nur Kitsch und plumpe Folklore. In Klagenfurt versucht Moritz wie Ingeborg Bachmann getreu deren Kindheitsm­otto „Zum See ging man zu Fuß“zum Wörthersee zu gelangen, was ihm nur mithilfe von Google Maps gelingt – und nicht auf dem Bachmann-Weg. Besser ist da schon die Hermann-Hesse-Wanderung in Montagnola samt HesseMuseu­m.

In Zürich schließlic­h erinnert der Autor daran, dass Max Frisch auch Architekt war und es Fotos gibt, auf denen der „junge Frisch auf der Baustelle des Sommerbade­s und mit einem hoch interessie­rten Gast, dem Kollegen Bertolt Brecht“, zu sehen ist. So flaniert man von Stadt zu Stadt, von Dichter zu Dichter, freut sich über die einladende­n Fotografie­n von Anna Aicher und überlegt, ob man sich diesen Hoteltipp oder jenes Restaurant, das Moritz en passant im kleinen Anhang empfiehlt, nicht doch einmal näher anschauen soll.

» Knesebeck, 222 S., 40 ¤

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