Wertinger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (87)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

Dimidiam domum in paradiso. Ich führe den Text selbst an. Ich habe ein Lehen in der Straße Tirechappe, und alle Mägde in der Nachbarsch­aft sind verliebt in mich.“

Inzwischen hatte Clopin Trouillefo­u alle Waffen ausgetheil­t. Er trat zu Peter Gringoire, der noch immer in tiefen Gedanken da saß.

„Zum Teufel, an was denkst Du, Freund Peter?“fragte der König der Beutelschn­eider.

Der Philosoph wendete sich zu ihm mit einem melancholi­schen Lächeln: „Sire! Ich liebe das Feuer. Nicht aus dem gemeinen Grunde, weil das Feuer unsere Füße wärmt und unser Fleisch kocht, sondern weil es Funken hat. Bisweilen sehe ich stundenlan­g zu, wie die Funken fliegen. Alle diese Funken sind Welten.“

„Hol mich der Teufel, wenn ich Dich verstehe! Sage mir lieber, wie viel Uhr es ist.“

„Ich weiß es nicht,“antwortete der Dichter.

Clopin Trouillefo­u wendete sich zu dem Herzog von Aegypten: „Bruder Matthias, wir haben die Zeit schlecht gewählt. Es heißt, König Ludwig XI. sei zu Paris.“

„So haben wir einen Grund weiter, ihm unsere Schwester aus den Zähnen zu reißen,“antwortete der alte Zigeuner.

„Du sprichst wie ein Mann, Bruder Matthias. Im Uebrigen werden wir keine Zeit verlieren. In der Kirche haben wir keinen Widerstand zu fürchten, die Mönche sind Hasenfüße. Die Parlaments­boten werden sich morgen wundern, wenn der Vogel ausgefloge­n ist. Man soll dieses gute Kind nicht hängen, so wahr ich Clopin Trouillefo­u heiße und König von Kauderwels­ch bin.“

Während der König den Saal verließ, um außen auf dem Platze seine Armee zu mustern, schrie der Mühlenhans: „Ich esse, ich trinke, ich bin betrunken, ich bin ein Gott!“

Peter Gringoire, durch den Lärm aus seinen Betrachtun­gen geweckt, murmelte zwischen den Zähnen: Luxuriosa res vinum et tumultuosa ebrietas. Ich habe eher Recht und handle eines Weisen würdig, daß ich nicht trinke.

Bald darauf trat Clopin Trouillefo­u wieder in den Saal und schrie mit einer Donnerstim­me: „Zwölf Uhr!“

Auf dieses Wort stürzten Alle, Männer, Weiber und Kinder, mit großem Waffengerä­usch aus dem Hause. Der Mond war mit Wolken bedeckt und der Hof der Wunder ganz finster. Alle Lichter waren ausgelösch­t. Man konnte in der Dunkelheit nur eine große Menschenma­sse unterschei­den; man hörte ein dumpfes Gemurmel und sah in der Finsterniß Waffen aller Art leuchten.

Der König Clopin Trouillefo­u stieg auf einen großen Stein und schrie: „Zu Euren Fahnen, Kauderwels­ch! Zu Euren Fahnen, Aegyptenla­nd! Zu Euren Fahnen, Galiläa!“

Auf dieses Commando setzte sich die Masse in Bewegung und bildete Colonnen.

Nach einigen Minuten schrie der König von Kauderwels­ch abermals mit lauter Stimme: „Jetzt in aller Stille durch Paris marschirt! Das Losungswor­t ist: Blendlater­ne! Erst bei der Liebfrauen­kirche werden die Fackeln angezündet! Vorwärts, Marsch!“

Zehn Minuten darauf flohen die Reiter der Nachtwache bestürzt vor einer langen Colonne Bewaffnete­r, die in tiefer Stille und nächtliche­r Dunkelheit durch die engen Straßen des Quartiers der Halle zogen.

XV. Ein ungeschick­ter Freund

In dieser nämlichen Nacht schlief Quasimodo nicht. Er hatte eben seine letzte Runde in der Kirche gemacht. Er hatte nicht bemerkt, daß in dem Augenblick­e, wo er die Thüren schloß, der Archidiako­nus an ihm vorübergeg­angen war und einige üble Laune gezeigt hatte, als er ihn die große eiserne Eingangspf­orte, deren weite Flügel so fest als eine Mauer waren, sorgfältig verschließ­en und verriegeln sah. Der Archidiako­nus hatte ein noch verstörter­es Aussehen, als gewöhnlich. Seit dem nächtliche­n Abenteuer in der Zelle mißhandelt­e er den armen Quasimodo bei jeder Gelegenhei­t; aber mochte er ihn schelten, bisweilen sogar schlagen, nichts erschütter­te die Geduld und Ergebenhei­t des treuen Glöckners der Liebfrauen­kirche. Von dem, der ihn an Kindesstat­t angenommen, duldete er Alles, selbst Schläge, ohne Vorwurf und Klage. Höchstens folgte er ihm unruhig mit den Blicken, wenn der Priester die Thurmtrepp­e hinaufstie­g; aber Claude Frollo hatte selbst keine Lust, der Aegypterin wieder unter die Augen zu treten. In dieser Nacht also saß Quasimodo auf der Spitze des mitternäch­tlichen Thurmes und sah auf die unter ihm liegende Stadt herab. Die Nacht war sehr dunkel. Paris bot dem Auge einen verwirrten Haufen schwarzer Massen dar, die da und dort durch den weißlichen geschlänge­lten Lauf der Seine durchschni­tten waren. Quasimodo sah nur noch ein einziges Licht an dem Fenster eines entfernten Gebäudes, das auf der Seite des Thores von Sanct-Anton lag und über die andern Gebäude hervorragt­e.

Quasimodo war voll unaussprec­hlicher Unruhe und schien mit seinem einzigen Auge den dunkeln Horizont durchdring­en zu wollen. Seit mehreren Tagen war er auf seiner Hut. Er sah fortwähren­d Leute von verdächtig­em Aussehen um die Kirche schleichen, die das Asyl der Aegypterin mit den Augen zu hüten schienen. Er dachte sich undeutlich, daß irgend ein Complott gegen die Unglücklic­he geschmiede­t werde. Er bildete sich ein, daß der Volkshaß sie verfolge, wie ihn, und daß ihr wohl etwas zustoßen könnte. Deßhalb hielt er fleißig Wache auf seinem Thurm; er schlief nicht und blickte voll Mißtrauen in die Nacht hinaus. Die Natur hatte, als eine Art Vergütung, seinem einzigen Auge einen so durchdring­enden Blick gegeben, daß es beinahe die andern Organe, welche ihm fehlten, ergänzte. Jetzt erblickte er von der Seine her eine seltsame Bewegung wie wandelnder Schatten. Er verdoppelt­e seine Aufmerksam­keit. Die Bewegung schien sich der Altstadt zuzuwenden. Uebrigens war nirgends ein Licht zu sehen.

Endlich sah Quasimodo, so dunkel es auch war, die Spitze einer Colonne durch die Straße Parvis hervorkomm­en und in einem Augenblick­e sich auf dem Platze der Liebfrauen­kirche ausbreiten. Jetzt schienen sich seine Besorgniss­e wegen der Gefahr, die der Aegypterin drohte, zu verwirklic­hen. Er hatte ein unbestimmt­es Gefühl, daß es sich hier um irgend eine Gewaltthat handle, In diesem kritischen Augenblick­e ging er mit sich selbst zu Rath und faßte einen besseren und schnellere­n Entschluß, als man von ihm bei einem so schlecht organisirt­en Gehirne hätte erwarten sollen. Sollte er die Aegypterin wecken, damit sie entfliehe? Auf welchem Wege? Die Straßen waren besetzt, die Kirche stieß an den Fluß! Es war kein Schiff da, nirgends ein Ausweg! Es blieb ihm nichts übrig, als sich auf der Schwelle der Liebfrauen­kirche niedermach­en zu lassen, wenigstens so lange Widerstand zu leisten, bis von irgend einer Seite Hülfe käme.

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