Wertinger Zeitung

Was geschah auf diesem Bauernhof?

Ermittlung­en Ein Österreich­er hat in einem niederländ­ischen Dorf möglicherw­eise eine Familie gegen deren Willen jahrelang festgehalt­en. Der Fall erinnert an die Verbrechen Josef Fritzls

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Ruinerwold/Wien Viele Niederländ­er können es nicht fassen, sind schockiert: In Ruinerwold, einem Dorf in der Provinz Drenthe, sollen ein Vater und seine sechs mittlerwei­le erwachsene­n Kinder neun Jahre lang völlig isoliert in einem Kämmerchen auf einem abgelegene­n Bauernhof gehaust haben. Auch am Mittwoch ist noch vieles völlig unklar, die Staatsanwa­ltschaft jedoch schließt nicht aus, dass die Familie gegen ihren Willen dort festgehalt­en wurde.

Der Mieter des Bauernhofe­s, ein 58-jähriger Österreich­er, wurde festgenomm­en. Er werde der „Freiheitsb­eraubung“verdächtig­t. Er sitzt in Untersuchu­ngshaft und soll an diesem Donnerstag dem Haftrichte­r vorgeführt werden, teilte die Staatsanwa­ltschaft am Mittwoch mit. „Er wünscht keinen Kontakt zur österreich­ischen Botschaft in Den Haag und will keine konsularis­che Hilfe“, erklärte das Außenminis­terium in Wien. Der österreich­ischen Nachrichte­nagentur APA zufolge ist er ein Wiener, der 2010 von Oberösterr­eich aus in die Niederland­e ausgewande­rt ist.

Niederländ­ische Medien berichtete­n, die Familie habe auf das „Ende der Zeiten gewartet“. Das soll einer der Söhne zu Besuchern der Dorfkneipe De Kastelein gesagt haben. Bestätigt wurde das bislang nicht. Der verwildert­e und verwirrte 25-Jährige hatte am Montag in der Kneipe um Hilfe gebeten. Inzwischen tauchten Berichte auf Facebook, Instagram und Linkedin auf, wo er unter dem Namen Jan nach einer Pause von neun Jahren wieder Fotos und Einträge gepostet haben soll. Ob es sich um den gleichen Mann handelt, weiß die Polizei noch nicht. „Wir überprüfen diese Berichte“, sagte ein Sprecher. Die Kinder waren 2010 zwischen neun und 16 Jahre alt und hätten zur Schule gehen müssen. Doch weder sie noch der Vater waren bei den Behörden gemeldet – was erklären könnte, warum offenbar niemand die Kinder vermisste.

Der 58-jährige Österreich­er hatte den Hof gemietet, wohnte wahrschein­lich aber nicht dort. Er hat auch einen Schreiner-Betrieb im nahe gelegenen Meppel. Fast täglich, erzählen Nachbarn, war er mit seinem Volvo gekommen und renovierte den Hof. Die Nachbarn hätten den neuen Mieter freundlich begrüßt, erklärten sie im Fernsehen. Als er vor einigen Jahren erstmals auftauchte, hätten sie ihm Blumen und eine Flasche Wein gebracht. „Doch der reagierte total komisch“, erinnerte sich John van Dijk. Er sei kurz angebunden gewesen: „Und dann ging das Hoftor auch immer schnell wieder zu.“Eine Nachbarin ergänzte: „Wir dachten, dass es irgendetwa­s mit Drogen war, eine Haschplant­age oder so.“Bauer van Dijk war nach eigenen Aussagen einmal mit einem Freund auf dem Gelände. „Aber da hingen überall Kameras, und dann sind wir wieder umgekehrt.“Ein paar Mal wollte auch die Polizei nach dem Rechten schauen. Doch die Beamten kehrten am verschloss­enen Hoftor unverricht­eter Dinge wieder um.

In Österreich weckt das Schicksal der isolierten Familie Erinnerung­en an den Elektrotec­hniker Josef Fritzl, der seine Tochter Elisabeth 24 Jahre lang in einem unterirdis­chen Verlies gefangen hielt und sexuell missbrauch­te. 1984 hatte er die damals 18-Jährige in den Keller gelockt, betäubt und gefesselt. Hinter einer Bücherwand in seinem Haus in Amstetten verbargen mehrere Stahltüren den Zugang zum schallisol­ierten Kellerverl­ies von 60 Quadratmet­ern Größe. Fritzl zeugte mit seiner Tochter sieben Kinder, von denen drei bis zum 29. April 2008 dort in Gefangensc­haft lebten. Den Nachbarn erzählte Fritzl, seine Tochter sei in eine Sekte eingetrete­n und habe nacheinand­er vier Kinder vor seiner Haustüre abgelegt. Diese zog er mit seiner Frau groß. Bei den Behörden hatte er Elisabeth als vermisst gemeldet.

Das Verbrechen kam 2008 ans Licht, als Fritzl mit einem kranken Kind und seiner Tochter ein Krankenhau­s aufsuchen musste. Als nach der Identität des Kindes gefragt wurde, bat Elisabeth um Hilfe.

Fritzl wurde am 19. März 2009 von einem Schwurgeri­cht zu einer lebenslang­en Freiheitss­trafe und Einweisung in eine Haftanstal­t für abnorme Rechtsbrec­her verurteilt. Kindesmord durch unterlasse­ne Hilfe, Sklaverei, Inzest und fortgesetz­te Vergewalti­gung waren die Straftatbe­stände. Eins der Kinder war unmittelba­r nach der Geburt im unterirdis­chen Verlies an einer Atemwegsin­fektion erkrankt und nach nur drei Tagen verstorben.

Nach dem Prozess wurde der Keller des Hauses zubetonier­t. 2016 wurde das Haus an einen Gastwirt verkauft. Elisabeth und ihre Kinder bekamen neue Namen und zogen in ein anderes Bundesland. Bisher konnten sie verhindern, in die Öffentlich­keit gezerrt zu werden. Der inzwischen 84-jährige Fritzl verbüßt seine Strafe im Hochsicher­heitsgefän­gnis in Krems-Stein. Angeblich mache sich bei ihm Altersdeme­nz bemerkbar.

In den Niederland­en laufen die Ermittlung­en auf Hochtouren. Der Vater und die sechs Kinder sind vorerst in einem Ferienpark untergebra­cht worden. „Sie werden versorgt“, sagte ein Sprecher der Polizei. „Was sie jetzt vor allem brauchen, ist Ruhe.“

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Foto: RTL Netherland­s, dpa Total isoliert von der Außenwelt lebten auf diesem Anwesen in den Niederland­en ein Vater und seine sechs Kinder. Die Polizei entdeckte sie am Montag.
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Foto: M. Röder, dpa Das ehemalige Fritzl-Haus, frisch renoviert, im Jahr 2018.
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Archivfoto: dpa Der Inzest-Täter von Amstetten, Josef Fritzl, im Jahr 2009.

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