Schluss mit der ganz billigen Nummer?
Handel Aldi, Lidl & Co. haben Deutschland zum Discounterland gemacht. Jetzt stehen sie vor bislang ungekannten Problemen. Die Kunden wollen plötzlich viel mehr als nur günstige Preise. Die Supermärkte haben das früher verstanden – und schlagen nun zurück
Augsburg/Leipheim Dieses Jahr gibt es Champagner. Mit einem Kampfpreis von zehn Euro die Flasche lockt Aldi Süd die Kundschaft vor Weihnachten in die Filialen. Lidl zieht natürlich mit, wirbt mit südamerikanischem Rinderfilet für 26 Euro das Kilo und Weinen, die man nicht beim Discounter erwarten würde. Billig, gut und einfach, so schlicht ist die Formel, mit der die Discounter den deutschen Markt erobert haben. Aldi, Lidl & Co. haben Lebensmittel in Deutschland so günstig gemacht wie in kaum einem anderen Land. Und sie haben wenige Leute so reich gemacht wie kaum jemand anders im Land. Doch mittlerweile ist es etwas anders. Ausgerechnet in den Wochen vor Weihnachten, der für den Handel traditionell wichtigsten Zeit des Jahres, musste Aldi Süd bestätigen, dass das Unternehmen zwei seiner 30 Regionalgesellschaften auflöst und rund 580 Beschäftigen kündigt.
Wenn Handelsexperten erklären, warum Kunden in dem einen Geschäft einkaufen und nicht in einem anderen, sprechen sie gerne von der „Customer Journey“, der Reise des Kunden. Gemeint ist, wie der Kunde sanft und unbewusst dahin gebracht werden kann, dass er am Ende sein Portemonnaie öffnet. Jeder startet auf diese Reise, ob er will oder nicht. Denn sie beginnt schon im eigenen Heim, mit einem Werbespot im Fernsehen. Oder auf dem Weg zur Arbeit mit einem Großplakat an der Bushaltestelle. Oder beim Surfen im Internet mit einem Banner. Den Discountern entkommt man nicht. Nach dem Werbemonitor der Lebensmittel Zeitung und der Marktforschungsagentur Nielsen gab allein Lidl im ersten Halbjahr 185 Millionen Euro für Werbung aus. Aldi erhöhte die Ausgaben um 50 Prozent auf rund 92 Millionen. Dennoch gehen den Discountern die Kunden auf dieser Reise offenbar irgendwo zunehmend verloren. Stattdessen landen sie anderswo.
Mit der Veröffentlichung von Geschäftszahlen sind sowohl Aldi als auch Lidl, wohlwollend ausgedrückt, zurückhaltend. Aber Marktforscher und Branchen-Insider beschreiben einen eindeutigen Trend: Die Supermärkte – vor allem Rewe und Edeka – sind zurück. Seit der Finanzkrise im Jahr 2008 hat sich der Markt gedreht, analysiert etwa die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Was die Experten in den Zahlen erkennen, deuten sie als eine Moralisierung der Märkte: Der Ausbruch der Krise hat quasi wie ein Katalysator gewirkt und zu einer Werteverschiebung bei den Konsumenten geführt. Soziale Verantwortlichkeit und Nachhaltigkeit sind den Menschen wichtiger geworden.
Und diese Verschiebung spürt inzwischen auch der Handel. Der beste Preis ist nicht länger das wichtigste Verkaufsargument. Heute wollen viele Konsumenten, dass die Menschen, die an der Produktion von
Nahrungsmitteln beteiligt sind, fair bezahlt werden. Tiere sollen nicht unnötig leiden. Und mit einem Mal ist das, was die Discounter am besten konnten, nicht mehr so gefragt.
Höchste Zeit, auf diese Reise noch einen Reiseführer mitzunehmen. Er heißt Matthias Queck, arbeitet für Retailytics, die Analystengruppe der Lebensmittel Zeitung, und sagt: „Über Jahrzehnte sind die Supermärkte den Discountern hinterhergelaufen. Aber von der Kostenund Organisationsstruktur war es schlicht unmöglich, noch effizienter zu sein als die Discounter.“Die gesellschaftliche Wertschätzung von Lebensmitteln und die Wahrnehmung von Lebensmittelpreisen hätten sich geändert. „Sie gewinnen heute keinen Blumentopf mehr damit, wenn Sie den Preis für ein Kilo Mehl von 39 auf 29 Cent senken.“
Von 2008 bis 2016 ging der Marktanteil der Discounter um fast drei Prozentpunkte zurück. Im deutschen Lebensmittelhandel, der als der härteste der Welt gilt, ist so eine Verschiebung dramatisch. In den Zentralen von Lidl und Aldi schrillten alle Alarmglocken. Wenn sich der Trend bestätigte, stünde das Erfolgsrezept auf der Kippe, das die Branche so groß gemacht hat.
Um zu verstehen, warum die Reise für die Kunden wieder öfter in die Supermärkte führt, muss man genauer hinsehen. Mit Aldi Nord und Süd, Lidl, Netto Marken-Discount, Penny und Norma gibt es fünf flächendeckend in Deutschland vertretene Discounter. Im Vollsortimentsbereich, also bei Supermärkten, gibt es bundesweit nur noch Edeka und Rewe und die Märkte, die ihnen zugeordnet werden. Das hat auch Folgen für die Gewinnder spannen. Doch das erklärt nicht alles. Sowohl Edeka als auch Rewe haben einen großen Teil selbstständiger Kaufleute unter ihrem Dach. Gerade der selbstständige Einzelhandel lässt den Supermarkt derzeit so erfolgreich laufen, erklärt Queck: „Die Eigentümerverantwortung ist viel erfolgversprechender, wenn es um so kleinteilige Entscheidungen geht, wie man etwa mehr Frischeprodukte ins Sortiment bringt.“
Dazu komme ein anderer Trend: das Verlangen der Konsumenten nach lokalen und regionalen Produkten. Ein eigenständiger Händler kann diese leichter in die Regale bringen. Das trifft noch einen wunden Punkt der Discounter. Was sie so effizient macht, ist Standardisierung: einheitliches Sortiment, einheitliche Filialen und einheitliche Reaktionen auf neue Situationen. Beide Konzepte schließen sich gegenseitig aus. Damit sind wir an der nächsten Station der Reise. Bei Jürgen Frank und der Firma Wanzl in Leipheim im Landkreis Günzburg.
Wanzl ist weltbekannt für seine Einkaufswagen. Doch das Unternehmen ist längst auch ein führenzum
Anbieter im Ladenbau. Rund um den Globus plant und richtet das Unternehmen Läden ein, wenn gewünscht bis zum Einräumen der Waren. Mit Frank, dem Geschäftsbereichsleiter, kann man in Leipheim durch den Lebensmittelmarkt der Zukunft laufen. Von Zutrittskontrollen bis zu Kassenlösungen, von intelligenten Regalen bis zu Systemen, die aufzeichnen, wo sich wie viele Kunden wie lange aufhalten – auf drei Etagen ist im firmeneigenen Ausstellungsbereich alles versammelt, was heute oder in naher Zukunft im Einzelhandel steht. Dennoch lernt man auf einem Rundgang mit Frank weniger über die Technik als über die Kunden. Lektion eins ist: Der Kunde ist ein komplexes Wesen. Auf seine Treue sollte man sich als Lebensmittelhändler nicht zu sehr verlassen.
„Hätte man früher einen Händler gefragt, wie er seine Zielgruppe beschreibt, er hätte gesagt: Mann, Frau, Alter, Einkommen und so weiter. Heute haben die Kunden ein extrem situatives Einkaufsverhalten“, sagt Frank. Das heißt: Wer unter der Woche nach Feierabend noch schnell eine Tüte Milch braucht, kauft anderes ein, als derjenige, der am Wochenende auf der Suche nach den Zutaten für ein besonderes Essen ist.
Die selbstständigen Händler haben das früh erkannt und die Individualisierung zu ihrer Stärke gemacht: „Die positionieren sich gezielt als Gegenpol zu den anonymen Massenmärkten und heben sich ab, indem sie bewusst die beste Obstauswahl bieten, das größte Käsesortiment oder die vielfältigste Frischetheke“, erklärt Frank und führt zur nächsten Station der Reise.
Täuschend echte Plastikäpfel liegen appetitlich präsentiert im Musteraufbau einer Obsttheke. Über Echtholztischen und alten Obstkisten leuchten runde rote Lampen, die mit der Apfelform spielen. „So ein Sonderbereich in einem Laden ist eine Inszenierung. Wenn sie gelungen ist, erzählt der Händler mit ihr den Kunden eine Geschichte, etwa, warum er das beste Apfelsortiment hat“, erklärt Frank. Im Hintergrund ertönt derweil eine Stimme vom Band. „Sehr geehrte Kunden, wir öffnen Kasse eins für Sie …“
Und damit zurück zu den Discountern. Denn die haben die Zeichen der Zeit natürlich schnell erkannt. 2016 war vor allem für Aldi ein Schlüsseljahr. „Seither ist der Kampf der Discounter um die (Rück-)Gewinnung von Marktanteilen an Intensität kaum noch zu überbieten“, schreibt die GfK in ihrer Untersuchung. Sowohl Lidl wie auch Aldi haben begonnen, massiv in ihre Filialen zu investieren. Wer zum ersten Mal einen dieser modernisierten Läden betritt, muss sich erst wieder klarmachen, dass er beim Discounter ist. Fenster bis Boden, mehr Platz und eine ansprechendere Präsentation sorgen für mehr Wohlfühlatmosphäre. In manchen Märkten gibt es jetzt eine Kundentoilette oder einen Kaffeeautomaten. Aldi, zu dessen DNA es über Jahre gehörte, keine Markenprodukte im Sortiment zu haben und keine Sonderangebote zu machen, hat sich auch im Sortiment massiv verändert. Inzwischen gibt es sogar regelmäßig Sonderangebote von Markenprodukten, etwa CocaCola – und einen heftigen Kampf mit Lidl um die Preisführerschaft.
Auch die Nachhaltigkeit versuchen die Discounter massiv anzugehen. Aldi Süd ist nach eigenen Angaben in seinem Verbreitungsgebiet Marktführer beim Umsatz mit BioLebensmitteln, bietet neben Fairtrade-Produkten inzwischen sogar grünen Strom an. Lidl hat mit der Aufnahme von Bioland-Lebensmitteln einen Coup gelandet und viele Filialen energetisch auf den neuesten Stand gebracht. Kurzfristig zeigten sich Erfolge dieser Bemühungen, die Marktanteile stiegen wieder. Doch im ersten Halbjahr 2019 sind die Supermärkte wieder deutlich stärker gewachsen. Was bleibt den Discountern also noch?
Die Expansion in Deutschland ist weitgehend abgeschlossen, es gibt kaum noch Orte, an denen sich ein neuer Markt rechnen würde. Höhere Preise für das Standardsortiment sind nur schwer durchzusetzen. Also müssen neue Kunden in die Filialen gelockt werden, deren Einkaufsreise bisher nicht zum Discounter führte. Wie das gehen soll, probiert Aldi seit dem vergangenen Jahr in zehn Filialen: viel mehr frisches Obst und Gemüse, Snacks und frische Speisen zum Gleichessen, dazu noch Frischfleisch und -fisch. Noch einmal Queck: „Die Discounter
Der Wettbewerb ist extrem aggressiv
Die Präsentation der Waren erzählt eine Geschichte
versuchen auch verstärkt, in die Innenstadtlagen zu gehen. Immer mehr Leute, vor allem auch junge und kaufkräftige Kundschaft, wohnen wieder in der Innenstadt oder innenstadtnah.“
Doch der Wandel heute ist wohl ohnehin nur der Beginn einer viel längeren Reise mit noch unbekanntem Ziel. In Leipheim arbeitet Frank bereits an Konzepten für den Lebensmittelmarkt der Zukunft. Frische Produkte spielen da auch eine große Rolle. Aber auch ein Gastronomiebereich, denn die Märkte sind immer mehr auch sozialer Treffpunkt. Vor allem aber stehen Frank zufolge in Zukunft viele Produkte in einem Bereich, den die Kunden gar nicht betreten können: „Die Verkaufsflächen werden sich massiv verändern, wenn bestimmte Produkte nur noch online bestellt werden“, sagt der Ladenbau-Profi. In seiner Vision packt ein Roboter Shampoo, Haferflocken und Joghurt in einem voll automatisierten Lager zusammen, bis der Kunde seinen Salat und seinen frischen Fisch ausgesucht und vielleicht noch einen Kaffee getrunken hat. Ob das in der Filiale eines Discounters oder eines Supermarkts passiert, weiß Frank aber auch noch nicht.