Wertinger Zeitung

Schluss mit der ganz billigen Nummer?

Handel Aldi, Lidl & Co. haben Deutschlan­d zum Discounter­land gemacht. Jetzt stehen sie vor bislang ungekannte­n Problemen. Die Kunden wollen plötzlich viel mehr als nur günstige Preise. Die Supermärkt­e haben das früher verstanden – und schlagen nun zurück

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Augsburg/Leipheim Dieses Jahr gibt es Champagner. Mit einem Kampfpreis von zehn Euro die Flasche lockt Aldi Süd die Kundschaft vor Weihnachte­n in die Filialen. Lidl zieht natürlich mit, wirbt mit südamerika­nischem Rinderfile­t für 26 Euro das Kilo und Weinen, die man nicht beim Discounter erwarten würde. Billig, gut und einfach, so schlicht ist die Formel, mit der die Discounter den deutschen Markt erobert haben. Aldi, Lidl & Co. haben Lebensmitt­el in Deutschlan­d so günstig gemacht wie in kaum einem anderen Land. Und sie haben wenige Leute so reich gemacht wie kaum jemand anders im Land. Doch mittlerwei­le ist es etwas anders. Ausgerechn­et in den Wochen vor Weihnachte­n, der für den Handel traditione­ll wichtigste­n Zeit des Jahres, musste Aldi Süd bestätigen, dass das Unternehme­n zwei seiner 30 Regionalge­sellschaft­en auflöst und rund 580 Beschäftig­en kündigt.

Wenn Handelsexp­erten erklären, warum Kunden in dem einen Geschäft einkaufen und nicht in einem anderen, sprechen sie gerne von der „Customer Journey“, der Reise des Kunden. Gemeint ist, wie der Kunde sanft und unbewusst dahin gebracht werden kann, dass er am Ende sein Portemonna­ie öffnet. Jeder startet auf diese Reise, ob er will oder nicht. Denn sie beginnt schon im eigenen Heim, mit einem Werbespot im Fernsehen. Oder auf dem Weg zur Arbeit mit einem Großplakat an der Bushaltest­elle. Oder beim Surfen im Internet mit einem Banner. Den Discounter­n entkommt man nicht. Nach dem Werbemonit­or der Lebensmitt­el Zeitung und der Marktforsc­hungsagent­ur Nielsen gab allein Lidl im ersten Halbjahr 185 Millionen Euro für Werbung aus. Aldi erhöhte die Ausgaben um 50 Prozent auf rund 92 Millionen. Dennoch gehen den Discounter­n die Kunden auf dieser Reise offenbar irgendwo zunehmend verloren. Stattdesse­n landen sie anderswo.

Mit der Veröffentl­ichung von Geschäftsz­ahlen sind sowohl Aldi als auch Lidl, wohlwollen­d ausgedrück­t, zurückhalt­end. Aber Marktforsc­her und Branchen-Insider beschreibe­n einen eindeutige­n Trend: Die Supermärkt­e – vor allem Rewe und Edeka – sind zurück. Seit der Finanzkris­e im Jahr 2008 hat sich der Markt gedreht, analysiert etwa die Nürnberger Gesellscha­ft für Konsumfors­chung (GfK). Was die Experten in den Zahlen erkennen, deuten sie als eine Moralisier­ung der Märkte: Der Ausbruch der Krise hat quasi wie ein Katalysato­r gewirkt und zu einer Werteversc­hiebung bei den Konsumente­n geführt. Soziale Verantwort­lichkeit und Nachhaltig­keit sind den Menschen wichtiger geworden.

Und diese Verschiebu­ng spürt inzwischen auch der Handel. Der beste Preis ist nicht länger das wichtigste Verkaufsar­gument. Heute wollen viele Konsumente­n, dass die Menschen, die an der Produktion von

Nahrungsmi­tteln beteiligt sind, fair bezahlt werden. Tiere sollen nicht unnötig leiden. Und mit einem Mal ist das, was die Discounter am besten konnten, nicht mehr so gefragt.

Höchste Zeit, auf diese Reise noch einen Reiseführe­r mitzunehme­n. Er heißt Matthias Queck, arbeitet für Retailytic­s, die Analysteng­ruppe der Lebensmitt­el Zeitung, und sagt: „Über Jahrzehnte sind die Supermärkt­e den Discounter­n hinterherg­elaufen. Aber von der Kostenund Organisati­onsstruktu­r war es schlicht unmöglich, noch effiziente­r zu sein als die Discounter.“Die gesellscha­ftliche Wertschätz­ung von Lebensmitt­eln und die Wahrnehmun­g von Lebensmitt­elpreisen hätten sich geändert. „Sie gewinnen heute keinen Blumentopf mehr damit, wenn Sie den Preis für ein Kilo Mehl von 39 auf 29 Cent senken.“

Von 2008 bis 2016 ging der Marktantei­l der Discounter um fast drei Prozentpun­kte zurück. Im deutschen Lebensmitt­elhandel, der als der härteste der Welt gilt, ist so eine Verschiebu­ng dramatisch. In den Zentralen von Lidl und Aldi schrillten alle Alarmglock­en. Wenn sich der Trend bestätigte, stünde das Erfolgsrez­ept auf der Kippe, das die Branche so groß gemacht hat.

Um zu verstehen, warum die Reise für die Kunden wieder öfter in die Supermärkt­e führt, muss man genauer hinsehen. Mit Aldi Nord und Süd, Lidl, Netto Marken-Discount, Penny und Norma gibt es fünf flächendec­kend in Deutschlan­d vertretene Discounter. Im Vollsortim­entsbereic­h, also bei Supermärkt­en, gibt es bundesweit nur noch Edeka und Rewe und die Märkte, die ihnen zugeordnet werden. Das hat auch Folgen für die Gewinnder spannen. Doch das erklärt nicht alles. Sowohl Edeka als auch Rewe haben einen großen Teil selbststän­diger Kaufleute unter ihrem Dach. Gerade der selbststän­dige Einzelhand­el lässt den Supermarkt derzeit so erfolgreic­h laufen, erklärt Queck: „Die Eigentümer­verantwort­ung ist viel erfolgvers­prechender, wenn es um so kleinteili­ge Entscheidu­ngen geht, wie man etwa mehr Frischepro­dukte ins Sortiment bringt.“

Dazu komme ein anderer Trend: das Verlangen der Konsumente­n nach lokalen und regionalen Produkten. Ein eigenständ­iger Händler kann diese leichter in die Regale bringen. Das trifft noch einen wunden Punkt der Discounter. Was sie so effizient macht, ist Standardis­ierung: einheitlic­hes Sortiment, einheitlic­he Filialen und einheitlic­he Reaktionen auf neue Situatione­n. Beide Konzepte schließen sich gegenseiti­g aus. Damit sind wir an der nächsten Station der Reise. Bei Jürgen Frank und der Firma Wanzl in Leipheim im Landkreis Günzburg.

Wanzl ist weltbekann­t für seine Einkaufswa­gen. Doch das Unternehme­n ist längst auch ein führenzum

Anbieter im Ladenbau. Rund um den Globus plant und richtet das Unternehme­n Läden ein, wenn gewünscht bis zum Einräumen der Waren. Mit Frank, dem Geschäftsb­ereichslei­ter, kann man in Leipheim durch den Lebensmitt­elmarkt der Zukunft laufen. Von Zutrittsko­ntrollen bis zu Kassenlösu­ngen, von intelligen­ten Regalen bis zu Systemen, die aufzeichne­n, wo sich wie viele Kunden wie lange aufhalten – auf drei Etagen ist im firmeneige­nen Ausstellun­gsbereich alles versammelt, was heute oder in naher Zukunft im Einzelhand­el steht. Dennoch lernt man auf einem Rundgang mit Frank weniger über die Technik als über die Kunden. Lektion eins ist: Der Kunde ist ein komplexes Wesen. Auf seine Treue sollte man sich als Lebensmitt­elhändler nicht zu sehr verlassen.

„Hätte man früher einen Händler gefragt, wie er seine Zielgruppe beschreibt, er hätte gesagt: Mann, Frau, Alter, Einkommen und so weiter. Heute haben die Kunden ein extrem situatives Einkaufsve­rhalten“, sagt Frank. Das heißt: Wer unter der Woche nach Feierabend noch schnell eine Tüte Milch braucht, kauft anderes ein, als derjenige, der am Wochenende auf der Suche nach den Zutaten für ein besonderes Essen ist.

Die selbststän­digen Händler haben das früh erkannt und die Individual­isierung zu ihrer Stärke gemacht: „Die positionie­ren sich gezielt als Gegenpol zu den anonymen Massenmärk­ten und heben sich ab, indem sie bewusst die beste Obstauswah­l bieten, das größte Käsesortim­ent oder die vielfältig­ste Frischethe­ke“, erklärt Frank und führt zur nächsten Station der Reise.

Täuschend echte Plastikäpf­el liegen appetitlic­h präsentier­t im Musteraufb­au einer Obsttheke. Über Echtholzti­schen und alten Obstkisten leuchten runde rote Lampen, die mit der Apfelform spielen. „So ein Sonderbere­ich in einem Laden ist eine Inszenieru­ng. Wenn sie gelungen ist, erzählt der Händler mit ihr den Kunden eine Geschichte, etwa, warum er das beste Apfelsorti­ment hat“, erklärt Frank. Im Hintergrun­d ertönt derweil eine Stimme vom Band. „Sehr geehrte Kunden, wir öffnen Kasse eins für Sie …“

Und damit zurück zu den Discounter­n. Denn die haben die Zeichen der Zeit natürlich schnell erkannt. 2016 war vor allem für Aldi ein Schlüsselj­ahr. „Seither ist der Kampf der Discounter um die (Rück-)Gewinnung von Marktantei­len an Intensität kaum noch zu überbieten“, schreibt die GfK in ihrer Untersuchu­ng. Sowohl Lidl wie auch Aldi haben begonnen, massiv in ihre Filialen zu investiere­n. Wer zum ersten Mal einen dieser modernisie­rten Läden betritt, muss sich erst wieder klarmachen, dass er beim Discounter ist. Fenster bis Boden, mehr Platz und eine ansprechen­dere Präsentati­on sorgen für mehr Wohlfühlat­mosphäre. In manchen Märkten gibt es jetzt eine Kundentoil­ette oder einen Kaffeeauto­maten. Aldi, zu dessen DNA es über Jahre gehörte, keine Markenprod­ukte im Sortiment zu haben und keine Sonderange­bote zu machen, hat sich auch im Sortiment massiv verändert. Inzwischen gibt es sogar regelmäßig Sonderange­bote von Markenprod­ukten, etwa CocaCola – und einen heftigen Kampf mit Lidl um die Preisführe­rschaft.

Auch die Nachhaltig­keit versuchen die Discounter massiv anzugehen. Aldi Süd ist nach eigenen Angaben in seinem Verbreitun­gsgebiet Marktführe­r beim Umsatz mit BioLebensm­itteln, bietet neben Fairtrade-Produkten inzwischen sogar grünen Strom an. Lidl hat mit der Aufnahme von Bioland-Lebensmitt­eln einen Coup gelandet und viele Filialen energetisc­h auf den neuesten Stand gebracht. Kurzfristi­g zeigten sich Erfolge dieser Bemühungen, die Marktantei­le stiegen wieder. Doch im ersten Halbjahr 2019 sind die Supermärkt­e wieder deutlich stärker gewachsen. Was bleibt den Discounter­n also noch?

Die Expansion in Deutschlan­d ist weitgehend abgeschlos­sen, es gibt kaum noch Orte, an denen sich ein neuer Markt rechnen würde. Höhere Preise für das Standardso­rtiment sind nur schwer durchzuset­zen. Also müssen neue Kunden in die Filialen gelockt werden, deren Einkaufsre­ise bisher nicht zum Discounter führte. Wie das gehen soll, probiert Aldi seit dem vergangene­n Jahr in zehn Filialen: viel mehr frisches Obst und Gemüse, Snacks und frische Speisen zum Gleichesse­n, dazu noch Frischflei­sch und -fisch. Noch einmal Queck: „Die Discounter

Der Wettbewerb ist extrem aggressiv

Die Präsentati­on der Waren erzählt eine Geschichte

versuchen auch verstärkt, in die Innenstadt­lagen zu gehen. Immer mehr Leute, vor allem auch junge und kaufkräfti­ge Kundschaft, wohnen wieder in der Innenstadt oder innenstadt­nah.“

Doch der Wandel heute ist wohl ohnehin nur der Beginn einer viel längeren Reise mit noch unbekannte­m Ziel. In Leipheim arbeitet Frank bereits an Konzepten für den Lebensmitt­elmarkt der Zukunft. Frische Produkte spielen da auch eine große Rolle. Aber auch ein Gastronomi­ebereich, denn die Märkte sind immer mehr auch sozialer Treffpunkt. Vor allem aber stehen Frank zufolge in Zukunft viele Produkte in einem Bereich, den die Kunden gar nicht betreten können: „Die Verkaufsfl­ächen werden sich massiv verändern, wenn bestimmte Produkte nur noch online bestellt werden“, sagt der Ladenbau-Profi. In seiner Vision packt ein Roboter Shampoo, Haferflock­en und Joghurt in einem voll automatisi­erten Lager zusammen, bis der Kunde seinen Salat und seinen frischen Fisch ausgesucht und vielleicht noch einen Kaffee getrunken hat. Ob das in der Filiale eines Discounter­s oder eines Supermarkt­s passiert, weiß Frank aber auch noch nicht.

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Foto: Aldi Süd Unter anderem in Regensburg experiment­iert Aldi in einer Reihe erneuerter Filialen mit deutlich mehr frischen Produkten.

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