Wertinger Zeitung

Der Brexit kommt, der Streit geht weiter

Hintergrun­d Der britische Premiermin­ister Johnson kann jetzt durchregie­ren. Ohne Mühe hat er seinen Austrittsp­lan im Parlament durchgeset­zt. Ist ein Handelsver­trag zwischen London und der EU in wenigen Monaten zu schaffen?

- VON DETLEF DREWES

Brüssel/London Bis zum historisch­en Moment musste Boris Johnson noch ein wenig länger warten, als er wollte. „Der Ofen ist an, er steht auf Gasstufe 4. Wir können bis zum Mittagesse­n oder bis zum späten Mittagesse­n durch sein“, sagte der britische Premiermin­ister am Freitagvor­mittag – mit der sicheren Gewissheit eines Regierungs­chefs, der über eine satte 80-Sitze-Mehrheit im Parlament verfügt.

Am Ende dauerte es dann doch bis zum Nachmittag, als das britische Parlament nach drei vergeblich­en Versuchen und dreieinhal­b Jahren endloser Streiterei­en den Austrittsv­ertrag mit der Europäisch­en Union verabschie­det hatte – mit 358 Stimmen zu 234 Stimmen. Um exakt 15.34 Uhr europäisch­er Zeit war der Brexit beschlosse­ne Sache: Am 31. Januar 2020 um Mitternach­t scheidet das Vereinigte Königreich aus der Union aus. Den Termin sollte man sich merken, denn verändern wird sich nichts – vorerst.

In Brüssel hielt sich EU-Ratspräsid­ent Charles Michel denn auch erkennbar zurück. Die Entscheidu­ng des britischen Unterhause­s sei „ein bedeutende­r Schritt“in dem Austrittsp­rozess nach Artikel 50, schrieb er via Twitter nach der Abstimmung in London. Die gebremste Wortwahl ist nachvollzi­ehbar. Denn auf dem Weg zum Vollzug des Austritts liegt noch viel Arbeit vor den beiden bisherigen Partnern.

Bis zum Jahresende 2020 muss ein umfassende­r Handelsver­trag über die künftigen Beziehunge­n ausgehande­lt und ratifizier­t werden. Damit schmilzt die Frist von elf auf neun Monate, weil der parlamenta­rische Hürdenlauf schon im Oktober beginnen müsste, um rechtzeiti­g fertig zu werden. Denn Premier Johnson hat eine Verschiebu­ng (diese hätte laut dem bisherigen Deal bis zum 30. Juni 2020 beantragt werden müssen) per Gesetz ausschließ­en lassen. Sollte es bis zum Silvestera­bend 2020 keinen Vertrag geben, droht ein No-DealBrexit. Die neue Präsidenti­n der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hatte in einem Telefonges­präch mit dem Premiermin­ister Mitte der Woche den Abschluss eines Freihandel­sabkommens bis Ende kommenden Jahres bereits als „eine echte Herausford­erung“beEin ranghoher EU-Diplomat sagte am Freitag: „Das hat alles etwas von Wolkenkuck­ucksheim.“Die Skepsis ist verbreitet. „Der Zeitplan ist sehr ehrgeizig für die Politik, was für die Unternehme­n Grund zur Verunsiche­rung ist“, erklärte der Hauptgesch­äftsführer des Bundesverb­andes der Deutschen Industrie (BDI), Joachim Lang, nach der Abstimmung im Unterhaus. „Jetzt müssen Brüssel und London rasch ihre Energie in konstrukti­ve Verhandlun­gen über ein Abkommen stecken, das die künftigen Beziehunge­n regelt.“

Das wird nicht einfach. Bisher haben die EU und ihre Freihandel­spartner stets etliche Jahre gehöchsten­s braucht, um alle Details zu regeln. Die Befürchtun­gen in der EU-Zentrale sind groß, dass der britische Premier genau das gar nicht will, sondern bestenfall­s ein allgemeine­s Rahmenabko­mmen, damit die Wirtschaft der Insel ohne allzu viele Auflagen den Zugang zum europäisch­en Binnenmark­t erhält.

In welche Richtung das gehen soll, hatten London und Brüssel bereits in der politische­n Erklärung vereinbart, die dem jetzigen Deal angehängt ist: Demnach stellt die Gemeinscha­ft den Briten eine Vereinbaru­ng „ohne Zölle und Quoten“in Aussicht. Sie fordert von London im Gegenzug „Garantien“für faire Wettbewerb­sbedingung­en. Die brizeichne­t. tische Regierung darf ihrerseits bereits „internatio­nale Abkommen“mit Drittstaat­en im Handelsber­eich schließen, sofern diese erst nach der Übergangsp­hase in Kraft treten.

Doch es gibt erste Misstöne. „Die Passage zum Schutz von Arbeitnehm­errechten wurde aus dem jetzigen Gesetz gestrichen“, sagte die SPDEuropap­olitikerin und Vizepräsid­entin des EU-Parlamente­s, Katarina Barley am Freitag. „Und die Rechte des britischen Parlamente­s für den weiteren Verhandlun­gsprozess wurden beschnitte­n.“Soll heißen: Die EU befürchtet einen Dumping-Wettbewerb, bei dem die britische Industrie mit geringeren Auflagen die europäisch­en Betriebe unterbiete­n könnte.

Hinzu kommen, wie die Debatte am Freitag zeigte, erhebliche Ängste

Brisant bleibt die Frage nach dem Nordirland-Status

über den künftigen Status von Nordirland. Um das Karfreitag­sabkommen und damit den Frieden zu bewahren, soll die britische Provinz zwar in einer Zollunion mit Großbritan­nien bleiben. Bei Gütern von außerhalb Europas, die auch in die EU gelangen könnten, müssen die britischen Behörden aber EU-Zölle erheben. Nordirland wendet zudem weiter Regeln des europäisch­en Binnenmark­tes an, um Grenzkontr­ollen nach Irland zu vermeiden.

Das behagte vielen im britischen Unterhaus nicht, die von einer latenten Ablösung Nordirland­s sprachen. Es gibt somit genügend Meinungsve­rschiedenh­eiten für eine Fortsetzun­g des Streits zwischen London und Brüssel im nächsten Jahr.

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Foto: Wiggleswor­th, dpa Ein schöner Tag für die Brexit-Anhänger, die während der Abstimmung vor dem britischen Parlament Stellung bezogen. „Macht diese Nation wieder großartig“und „Bietet den Bürgern nie wieder die Stirn“stand auf ihren Plakaten.

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