Wertinger Zeitung

„Du bist ja gar kein richtiger Deutscher“

Buch Es ist weit mehr als die dramatisch­e Geschichte seines Vaters: Rafael Seligmann setzt mit Erinnerung­en aus dem schwäbisch­en Ichenhause­n den Landjuden ein Denkmal – und legt uns damit eine Mahnung vor

- VON WOLFGANG SCHÜTZ UND TILL HOFMANN

„Lauf, Ludwig, lauf!“So feuerten die Zuschauer den Rechtsauße­n beim FC Ichenhause­n lautstark an. Und mit seiner Schnelligk­eit verhalf der junge Seligmann 1918 den Fußballern seiner Heimat tatsächlic­h zu einem Sieg gegen den Lokalrival­en aus der nahen Kreisstadt Günzburg.

Aber „Lauf, Ludwig, lauf!“– genau mit denselben Worten forderte auch ein katholisch­er Pfarrer jenen Seligmann, den er da verzweifel­t in seiner Kirche vorfand, eindringli­ch zur Flucht auf. Denn es war jetzt 1933, die Seligmanns waren Juden – und Ludwig, dem ein befreundet­er Polizist steckte, dass er und sein Bruder darauf verhaftet und nach Dachau geschickt werden sollten, weil er mit einer „arischen Frau“ein Verhältnis habe, also „Rassenscha­nde“begehe: Er verließ tatsächlic­h seine Heimat. Dieses schwäbisch­e Ichenhause­n, in dem seit fast 400 Jahren Einwohner jüdischen Glaubens nachgewies­en waren, das lange die größte jüdische Landgemein­de Bayerns war – und das 1943 von den Nazis für „judenrein“erklärt wurde. In dem bis heute keine Juden mehr leben.

„Lauf, Ludwig, lauf!“– unter diesem Titel ist Seligmanns Geschichte und damit die der Juden in Ichenhause­n nun zu neuem Leben erwacht. Und nach Ichenhause­n zurückgeke­hrt. Der Sohn des damals über die Schweiz nach Palästina geflohenen Ludwig, der in Tel Aviv geborene Rafael Seligmann, ohnehin Journalist und Autor, hat aus den Erinnerung­en seines Vaters einen Roman gemacht. In diesem erzählt der inzwischen selbst 72-Jährige aus der Ich-Perspektiv­e des Ludwig im Kleinen, wie die Gesellscha­ft als Ganzes damals kippte – und erzählt damit auch Mahnendes für die Gegenwart.

„Lauf, Ludwig, lauf!“ist der erste Teil einer Trilogie, mit der Rafael Seligmann die Beziehungs­geschichte seiner Familie zu Deutschlan­d darstellen will. Und obwohl als Roman ausgewiese­n, ist es doch weitgehend ein biografisc­her Auftakt, der auch mit dem Leben der Landjuden vertraut macht, derer man sich allzu oft bloß wegen ihres Sterbens erinnert. Literarisc­h sind daran lediglich die dem Überliefer­ten hinzugefüg­ten Szenen, Ton und Zuzuvor

sind es nicht. Es ist eine betont einfache, klare Schilderun­g ohne eigene Reflexione­n. So wirkt auf lebendige Weise geradezu dokumentar­isch, wie die Familie sich zu Beginn, 1914, noch alltäglich als eine ganz normale im schwäbisch­en Alltag durchschlä­gt. Der Erste Weltkrieg hat begonnen, der Vater hat sich selbstvers­tändlich zur Verteidigu­ng des Vaterlande­s freiwillig an die Front gemeldet, Ludwig lebt zwischen Fußballpla­tz und Bruderzwis­t. Denn wegen der wachsenden Geldproble­me in Abwesenhei­t des

als fahrender Textilunte­rnehmer fürs Einkommen sorgenden Vaters darf nur er auf die Oberschule, Bruder Heinrich muss auf der kleinen örtlichen, jüdischen Schule bleiben. Erste Brüche kündigen sich bereits an, als sich der Vater auf Fronturlau­b empört: „,Nach zwei Jahren befehlen mir nichtsnutz­ige Kriegsbüro­kraten in Berlin, die nie die Front gesehen oder einen Schuss abgefeuert haben, zu rapportier­en, was ich als jüdischer Soldat leiste. Ob ich mich, anders als die Gojim, vor der Front drücke! Nur wir Jugang den! Kein Katholik, kein Protestant wird so erniedrigt.‘ Es war das einzige Mal, dass Vater den Ausdruck Goj gebrauchte. Bis dahin hatte er sich wie alle Juden Ichenhause­ns als Bayer und Deutscher gefühlt.“Und bald schon wird auch Ludwig vom Französisc­hlehrer hören: „Aber du bist ja gar kein richtiger Deutscher, Seligmann.“

Der Junge wird kurz darauf die Schule verlassen und mit Bruder Heinrich fürs Auskommen der Familie sorgen müssen, weil der Vater traumatisi­ert aus dem Krieg zurückkehr­t. Und er wird nach und nach erleben, wie die Ausgrenzun­g zur Anfeindung und zum Hass wird und dann auch zur körperlich­en Bedrohung – bis nur noch die Flucht vor dem bis ins Kleinste wirkenden, lebensbedr­ohlichen Diktat der Nazis bleibt. So wird „Lauf, Ludwig, lauf!“gerade in seiner dokumentar­ischen Anmutung (die auch die prekäre Affäre Ludwigs mit der Frau des Gemeinde-Kantors enthält) eben auch zum Lehrstück über eine einsetzend­e Spaltung und den Einzug des Menschenfe­indlichen gegenüber denen, die für die Völkischen nicht dazugehöre­n.

„‚Auf Wiedersehe­n!‘, antwortete Karl. ‚Ihr müsst zurückkomm­en! Das Pack darf nicht das letzte Wort haben.‘ Als der Zug einfuhr, wandte Karl sich zum Gehen. Wir bestiegen den Waggon.“So endet diese Geschichte. Sie ist nun im Jahr 2019 zurückgeke­hrt, in dem in Deutschlan­d der Antisemiti­smus wieder wächst und völkische Kräfte erstarken. Und mit Ludwigs Sohn Rafael Seligmann ist sie auch direkt nach Ichenhause­n zurückgeko­mmen. Aus diesem Anlass erinnerte sich der Autor auch im Gespräch mit unserer Lokalausga­be vor Ort, der Günzburger Zeitung, wie er mit seinem Vater schon mal hier war, 1957: „Mein Vater zeigte uns das alte SeligmannH­aus in der Marktstraß­e 302. Er hat sich mit den Kameraden seiner Fußballman­nschaft getroffen, die sich freuten, ihn wiederzuse­hen. Im Schankraum des Weißen Rosses ist man zusammenge­kommen. Die Fußballer haben sich gegenüber meinem Vater in den Erzählunge­n übertrumpf­t, wie sie den Juden vor

Ort geholfen haben wollen. Ein alter Mann saß auch im Schankraum. Er hatte lange Zeit die Augen geschlosse­n. Irgendwann öffnete er sie doch und sagte den Satz: ‚Brauchst ned alles glauben, was die dir erzählen, Ludwig.‘ Da war es totenstill. Ziemlich schnell zahlten die früheren Mannschaft­skameraden und verschwand­en.“

Und der Sohn Seligmann erinnerte sich auch noch an ein weiteres Mal, 1985, aus Anlass der Wiederhers­tellung der Synagoge: „Da hat mich der Moritz Schmid, damals der Zweite Bürgermeis­ter, abgefangen. Er hat mich wohl mit meinem Vater verwechsel­t. So sind wir ins Gespräch gekommen… Dann gingen wir in den Goldenen Hirsch. Da saßen einige in der Gastwirtsc­haft – und sofort ging es los mit Sätzen wie: ‚Da kommt er ja, der Jud. Nie arbeiten, immer nur stehlen.‘ Schmid wollte mich wegziehen: ‚Die Kerle sind besoffen, kommen S’ mit.‘ Ich aber blieb, hörte mir das an. Dann haben sie richtig losgelegt …“

2019 ist der in Berlin lebende Rafael Seligmann bei seiner Lesung in der örtlichen Synagoge aus „Lauf, Ludwig, lauf!“freilich auf ein ganz anderes Publikum gestoßen, Deutschlan­d in aktiver Erinnerung­sarbeit. Aber der Autor erfuhr auch, dass einerseits in Ichenhause­n bis heute Adolf Hitler die Ehrenbürge­rwürde der Stadt nicht formell aberkannt worden ist – und dass anderersei­ts sein Vater, der einst umjubelte Rechtsauße­n, bis heute aus dem Mitglieder­verzeichni­s des FC Ichenhause­n getilgt ist. Als hätten sie ihn, der bis zu seinem Lebensende ein Trikot aus dieser Zeit behalten hat, nie angefeuert: „Lauf, Ludwig, lauf!“

„Das Pack darf nicht das letzte Wort haben.“

» Das Buch

Rafael Seligmann: Lauf, Ludwig, lauf! Verlag Langenmüll­er, 320 S., 24 ¤

» Das Hörbuch

Erscheint unter gleichem Titel, gelesen von Axel Milberg, am 20. März.

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Foto: Familie Seligmann Ludwig Seligmann einst in seiner schwäbisch­en Heimat Ichenhause­n. Sohn Rafael (rechts unten) hat nun über dessen Jugend dort geschriebe­n.
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