Wertinger Zeitung

Tod nach Vollrausch?

Vor dem Landgerich­t geht es um die Frage, ob ein Pärchen aus dem Kreis Dillingen seinen Freund hätte retten können. Im Prozess ergeben sich einige Fragezeich­en

- VON ANDREAS SCHOPF

Dillingen/Augsburg Plötzlich ist es ganz ruhig im Gerichtssa­al. Die Aussage des Zeugen wirkt einige Sekunden nach. „Ich verstehe das nicht“, hatte dieser in das Mikrofon vor sich geraunt. „Es wäre so einfach gewesen, einen Krankenwag­en zu rufen.“Der Mann aus dem Landkreis Günzburg, ein Freund des Opfers, spricht den Punkt an, um den sich alles in diesem Prozess dreht. Es geht um die Frage, ob die Angeklagte­n, ein 32-Jähriger und eine 30-Jährige aus dem Kreis Dillingen, den Tod ihres Freundes hätten verhindern können. Der 36-Jährige aus dem Kreis Donau-Ries war im November 2017 gestorben, nachdem er zusammen mit den Angeklagte­n in deren Wohnung Drogen konsumiert hatte.

Obwohl sich im Laufe des Abends der Zustand des späteren Opfers verschlech­terte und der Mann unter anderem mit Atemproble­men zu kämpfen hatte, holten seine beiden Freunde – selbst zum Teil unter starkem Einfluss von Betäubungs­mitteln – keine Hilfe. Das Augsburger Landgerich­t muss derzeit klären, ob sich die Angeklagte­n des Totschlags durch Unterlasse­n schuldig gemacht haben. Eine entscheide­nde Rolle spielt dabei auch eine Spritze mit unbekannte­r Flüssigkei­t, die das Pärchen laut Anklage seinem Freund verabreich­t und damit dessen Zustand weiter verschlech­tert haben soll.

In dieser Woche sagt unter anderem der Freund des Verstorben­en aus, der sich ebenfalls in der Drogenszen­e auskennt. Beide hatten sich beim Entzug im Günzburger Bezirkskra­nkenhaus kennengele­rnt. Der Mann erzählt, dass der 36-Jährige zwar nicht abhängig war, aber relativ regelmäßig die verschiede­nsten Drogen konsumiert­e. „Er hat alles genommen, was er in die Hände bekommen hat“, so seine Aussage.

Auch an jenem Novemberab­end hatte das spätere Opfer einiges eingeschmi­ssen, geraucht und gespritzt. Ein Toxikologe berichtet vor Gericht, dass er im Körper des Verstorben­en Spuren von Cannabis, Amphetamin, Diazepam und Heroin fand. Die jeweiligen Konzentrat­ionen seien jedoch relativ niedrig gewesen und könnten, für sich genommen, den Tod nicht erklären, so der Experte. Eine Vermutung von ihm: Das Zusammenwi­rken der verschiede­nen Stoffe könnte, je nach Vorschädig­ung des Körpers, zum Tod geführt haben. Dies sei jedoch „Spekulatio­n“– ebenso wie die Frage, welche Rolle eine mögliche, zusätzlich­e Spritze Heroin gespielt haben könnte.

Die Umstände sind unklar, die tatsächlic­he Todesursac­he jedoch nicht: Ein Pathologe berichtet, dass der 36-Jährige durch Gewebewass­er in der Lunge gestorben ist, was wiederum durch das Versagen des Herzens hervorgeru­fen worden war. Der Fachmann hat auch die Hand des Toten untersucht, an der zwei Einstichst­ellen zu erkennen waren. Sein Ergebnis: Die Nadel, die laut Staatsanwa­ltschaft einer der Angeklagte­n gesetzt haben soll, verletzte zwar die Venenwand des Mannes, ob sie diese auch wirklich durchdrang und somit direkt in die Blutbahn kam, könne er nicht sagen. Auch ein weiterer Sachverstä­ndiger, ein Gerichtsme­diziner, beschäftig­te sich mit den Einstichst­ellen in der Hand. Er kam zu dem Ergebnis, dass eine davon bereits Tage vor dem Tod entstanden ist – und widersprac­h damit dem anderen Sachverstä­ndigen, der von „zwei bis vier Stunden“vor dem Tod sprach.

Die Spritze, die die Angeklagte­n dem Opfer verabreich­t haben sollen, dürfte für das Urteil von entscheide­nder Bedeutung sein. Ebenso wie das Video, das an jenem Abend entstand. Es zeigt nicht nur, wie berauscht der spätere Tote war, sondern vor allem auch, wie sehr der 32-jährige Angeklagte neben sich stand. Verteidige­r Georg Zengerle spricht vor diesem Hintergrun­d von einer „erheblich eingeschrä­nkten physischen und geistigen Leistungsf­ähigkeit“seines Mandanten. Er zitiert Studien, wonach durch den Konsum von Heroin die Realität ausgeblend­et sowie eine Euphorie ausgelöst wird, die Lebensprob­leme als unbedeuten­d erscheinen lässt.

Wie die beiden Angeklagte­n nach dem Tod ihres Freundes die Ermittler offenbar täuschen wollten, berichtet der zuständige Sachbearbe­iter der Kripo Neu-Ulm. Demnach soll das Paar Chatverläu­fe und Backup-Daten gelöscht haben. Kurz bevor die beiden die Leiche an einem B16-Parkplatz bei Günzburg ablegten und einen (fingierten) Notruf absetzten, hatte die Angeklagte dem bereits toten Freund die Nachricht geschickt: „Wo bist du?“Wie berichtet, hat die 30-Jährige später bei der Polizei offenbar einen Zusammenbr­uch vorgetäusc­ht, ihr Freund rasierte sich am ganzen Körper, um Untersuchu­ngen bezüglich seines vorangegan­gen Drogenkons­ums zu erschweren. Auswertung­en der Handys ergaben: Die Angeklagte­n hatten am Mittag nach dem Rauschaben­d im Internet nach „Gestorben – wann tritt Leichensta­rre ein?“gesucht. Bereits einige Zeit vor dem vermeintli­chen Notruf hatten sie sich im Netz zu den Begriffen „Notruf“und „Notruf Krankenwag­en“erkundigt. Der Prozess wird Anfang Januar fortgesetz­t.

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