Jugendliche sollen vor Suizid bewahrt werden
Prävention Rund 10 000 Menschen nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben, bei Jugendlichen ist der Freitod die zweithäufigste Todesursache. Eine Augsburger Arbeitsgruppe will dies nun zum Thema machen
Augsburg Anzeichen gab es für Katrin Oppelt keine. Als sich ihre 18-jährige Tochter im Sommer 2018 das Leben nahm, traf sie dieser schwere Schlag ohne Vorwarnung. Erst danach fand die Mutter eine Vielzahl von Abschiedsbriefen. „Meine Tochter hatte diesen Schritt über Wochen geplant“, sagt sie.
Der Prozess, den Suizid eines Angehörigen zu verarbeiten, ist schwer – auch Katrin Oppelt suchte sich wie viele andere Betroffene dafür Unterstützung. Die gibt es etwa bei der Selbsthilfegruppe AGUS in Augsburg, die Angehörigen nach Suizid zur Seite steht. Dort traf Oppelt vor einigen Monaten auf den Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. Guido Terlinden, der dort einen Vortrag hielt.
Er arbeitete viele Jahre als Oberarzt am Josefinum, hatte immer wieder mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun, die mit suizidalen Gedanken spielten oder bereits einen Versuch unternommen hatten. Junge Menschen, die einen Zustand erreicht hatten, in denen sie sich in einer Krise gefangen fühlten, Hoffnungslosigkeit spürten und keinen Ausweg fanden. Katrin Oppelt beschäftigte dieses Treffen so sehr, dass sie Terlinden später einen Brief schrieb. Nach einigen Gesprächen entschieden die Augsburger sich, ein Präventionsangebot zu schaffen, damit es bei jungen Menschen erst gar nicht so weit kommen muss.
Depressionen hafte immer noch ein Stigma an, wissen beide. Das wollen sie aufbrechen, psychische Gesundheit und Suizid in Augsburg zum Thema machen. „Suizid ist nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen. Allein in Deutschland begehen im Jahr 10000 Menschen aller Altersstufen Suizid“, sagt der Facharzt. Präventive Angebote gebe es zu wenig, bemängeln er und Oppelt.
In Augsburg sind unter anderem das Projekt „Suizid und Schule“, die Krisenseelsorge im Schulbereich Bistum Augsburg, ein Online-Beratungsangebot der Caritas oder die Telefonseelsorge Anlaufstellen. Werde in Schulen viel über Drogenmissbrauch informiert, stünden psychische Erkrankungen aber nach wie vor zu sehr im Abseits, bemängeln die engagierten Augsburger.
Terlinden durfte die Abschiedsbriefe von Katrin Oppelts Tochter lesen. Vermutlich litt sie an einer Depression und vertraute sich niemandem an.
Gerade junge Menschen hätten große Hemmungen, Schwächen zu zeigen – schnell werde man als „Psycho“abgestempelt, wo man doch angesehen sein will, so Terlinden: „Junge Menschen stehen unter enormem Leistungsdruck, der ihnen sehr zusetzen kann. Daneben beschäftigen sie sich viel mit ihrer Identität: Wer bin ich? Was denken andere über mich?“Für Krisenbewältigung fehle oftmals die Erfahrung. „Sie können sich nicht vorstellen, dass eine Krise auch wieder vorbeigehen kann“, sagt Terlinden.
Er und Katrin Oppelt wollen deshalb ein niederschwelliges Angebot in Augsburg schaffen, um Hilfestellungen und Wege aus der Krise aufzuzeigen. „Wir wollen die Hände ausstrecken. Natürlich muss sie dann auch jemand nehmen, aber es ist allemal besser, als wenn man keine Hände ausstreckt“, sagt Katrin Oppelt. Dass Bedarf unter anderem auch an Schulen besteht, unterstrich auch eine Online-Petition von Unterhachinger Gymnasiasten. Sie fordern, dass Aufklärung über Depressionen, Suizid, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen in den Lehrplan aufgenommen werden soll, und konnten mehr als 42500 Unterschriften sammeln. Der bayerische Kultusminister Michael Piazolo reagierte mit einem ZehnPunkte-Programm zur Aufklärung über Depressionen und Angststörungen an den bayerischen Schulen. Guido Terlinden geht das Papier nicht weit genug: „Suizidalität wird dort mit keinem Wort erwähnt.“In Augsburg wollen sich Terlinden und Oppelt im Januar erstmals mit Mitstreitern in einer Arbeitsgruppe treffen, wo Ideen gesammelt werden und das weitere Vorgehen besprochen wird. Dafür haben sie unter anderem Vertreter von Beratungsstellen, vom Jugendamt und Schulen angeschrieben. Gerade Lehrer sind für Oppelt und Terlinden wichtige „Gatekeeper“, Menschen also, die eine Schlüsselfunktion innehaben. Und es sind Menschen, die auch Veränderungen von Schülern wahrnehmen, Bewusstsein für die Bedeutung von psychischer Gesundheit schaffen können. „Im vergangen Jahr haben drei Augsburger Schüler Suizid begangen“, sagt Guido Terlinden, der weiß, wie viel Leid durch einen Selbstmord bei Angehörigen und Freunden entsteht. Er will darum mit Katrin OpGuido pelt und weiteren Mitstreitern Wege aufzeigen, wie den jungen Menschen geholfen werden kann: Flyer, Apps, Vorträge und Thementage an Schulen sind eine erste Überlegung. Guido Terlinden will zudem Lehrern Verhaltensmuster an die Hand geben, die sie im Gespräch mit Schülern nützen können. „Viele suchen vor allem das Gespräch. Nicht alle müssen als Sicherheitsmaßnahme sofort in eine Klinik. Das Thema muss entkrampft werden“, sagt er. Als Vorbild nennt er die Arbeit des Münchner Vereins Arche, der sich seit 50 Jahren die
Suizidprävention und Krisenintervention zur Hauptaufgabe gemacht hat. Es ist eine Anlaufstelle für Menschen in Lebenskrisen, bei Suizidgefährdung und nach einem Suizidversuch. Daneben berät der Verein Angehörige und Hinterbliebene. „Solch ein umfangreiches nichtklinisches Angebot gibt es hier nicht. Das ist eine Lücke in Augsburg.“ⓘ
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