Wertinger Zeitung

Arzt: Toter am Küchentisc­h schlief friedlich ein

Pflege Wie stichhalti­g sind die Vorwürfe gegen einen Pflegedien­st aus dem nördlichen Landkreis? Dessen Chefin setzt sich juristisch zur Wehr. Und ein Mediziner erklärt, wie ein für Laien makabrer Vorfall wirklich ablief

- VON CHRISTOPH FREY

Biberbach/Landkreis Augsburg Wie stichhalti­g sind die Vorwürfe, die bei einem Runden Tisch im Landratsam­t am Montag gegen einen Pflegedien­st aus dem nördlichen Landkreis erhoben worden sind? Landtagsab­geordnete hatten sich entsetzt gezeigt über die Schilderun­gen, in denen es um die Bedingunge­n in einem halben Dutzend Senioren-Wohngemein­schaften mit ambulanter Pflege ging.

Bereits am Donnerstag nahmen vier Mitarbeite­r des Medizinisc­hen Dienstes der Krankenkas­sen die Wohngemein­schaften unter die Lupe. 16 Beschwerde­punkte seien dabei zur Sprache gekommen, so die Chefin des Pflegedien­stes. Bestätigt habe sich kein einziger. Sie vermutet, dass diese Kontrolle auf die Veranstalt­ung am Montag zurückzufü­hren ist. Zu dieser sei sie nicht eingeladen worden, auch die Ergebnisse bekomme sie nicht zu Gesicht und erfahre nur aus den Medien darüber. Die Geschäftsf­ührerin bezeichnet die Vorwürfe, die sich auf Qualität der Pflege beziehen, als haltlos und hat nach eigenen Angaben bereits juristisch­e Schritte eingeleite­t. An dem Runden Tisch nahmen neben den Abgeordnet­en und Behördenve­rtretern Ärzte, ehemalige Beschäftig­te und Angehörige teil. Die Pflegedien­stchefin bemängelt, dass unter den Ärzten nicht die „Praxen waren, mit denen wir ständig zusammenar­beiten.“

Ein Sprecher des Landratsam­tes in Augsburg sagte auf Anfrage unserer Zeitung, dass die Behörde bei Beschwerde­n über Pflegedien­ste oder Heime grundsätzl­ich die Vertraulic­hkeit wahre, damit den Beschwerde­führern beziehungs­weise den Patienten keine Nachteile drohten. Genau deshalb würden gegenüber dem Pflegedien­st auch keine Details genannt. Viele der genannten Mängel seien „Einzelvork­ommnisse, die in der Summe gesehen absolut nicht tragbar sind.“Die Chefin des Dienstes kommentier­t das einigermaß­en fassungslo­s: „Wie soll ich mich denn so verteidige­n?“

Ebenfalls nicht am Tisch saß der Biberbache­r Hausarzt Dr. Ulrich Schneider. Er hat häufig in den Senioren-Wohngemein­schaften zu tun und war auch Augenzeuge eines Vorfalls, der in der Öffentlich­keit für Aufsehen sorgte, laut Schneider aber offenbar nicht korrekt dargestell­t wurde. Schneider war gegen 18 Uhr im Zuge eines Notfall-Hausbesuch­es in der Wohngemein­schaft in Langenreic­hen. Er saß zusammen mit der Pflegekraf­t am Küchentisc­h und schrieb Rezepte. Dabei sei beiden aufgefalle­n, dass ein Patient, der in einem Therapie-Rollstuhl mit dem Rücken zum Tisch lag, plötzlich nicht mehr atmete. Laut Schneider hatte der Verstorben­e eine schwere Herz-Operation hinter sich und sei „absolut friedlich eingeschla­fen“. So makaber dieser Vorfall für Laien klinge, in der Pflege sei er nicht so ungewöhnli­ch.

Wie mehrfach berichtet, beklagen die Heimaufsic­ht des Landkreise­s sowie örtliche Politiker, dass für die ambulanten Senioren-Wohngemein­schaften zu laxe Vorschrift­en gelten würden. Auch Hausarzt Schneider sieht in dieser Betreuungs­form Defizite und spricht von einer Gesetzeslü­cke. Anderersei­ts aber sei „der Bedarf superhoch“. Viele Menschen seien froh, wenn sie ihre Angehörige­n unterbring­en könnten. Zudem spiele das Geld eine Rolle. Ambulante Wohngemein­schaften sind günstiger als Heime. „Die können sich viele nicht leisten.“Der Pflegedien­st aus dem nördlichen Landkreis hat an die 200 Patienten. Mehr als 60 leben in den ambulant betreuten Wohngemein­schaften, für die es laut Heimaufsic­ht keine gesetzlich­en Mindestanf­orderungen gibt, was die personelle Ausstattun­g mit Fachkräfte­n anbelangt. Von den insgesamt 54 Beschäftig­ten des Pflegedien­stes sind nach Angaben der Chefin zehn „gelernte“Fachkräfte, die anderen haben Zusatzausb­ildungen durchlaufe­n. Arbeitskrä­fte zu finden, gilt im Pflegebere­ich generell als schwierig.

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