Wertinger Zeitung

Gans in Not

Ein modernes Weihnachts­märchen für Kinder von Sabine Ludwig und Sabine Rothmund

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Was haltet ihr davon, wenn wir in diesem Jahr mal keine Gans braten, sondern …“Ein Aufschrei aus drei Kehlen ertönt. „Weihnachte­n ohne Gans, das ist doch kein Weihnachte­n“, sagt Lukas, und Papa meint: „Wenn ich nur an die leckere Füllung denke …“„Ich will aber den Bürzel!“, quakt Lilli dazwischen. „Bist selber ein Bürzel“, feixt Lukas und zwickt Lilli in den Po. „Weihnachte­n ohne Gans, das ist ja wie … wie Weihnachte­n ohne Baum“, sagt Papa. Mama räuspert sich. „Genau darüber wollte ich mit euch auch sprechen.“„Über den Weihnachts­baum?“, fragt Lukas. „Da gibt’s nichts zu sprechen, außer dass er dieses Jahr doppelt so hoch sein muss wie letztes.“„Und mit noch mehr Kerzen drauf!“, ruft Lilli. „Ich hab aber überhaupt keine Lust auf einen Baum“, sagt Mama leise. Wieder ertönt ein Aufschrei aus drei Kehlen. „Keine Gans, kein Baum, was soll das denn für ein Weihnachte­n sein?“, fragt Papa. „Das ist ein total bescheuert­es Weihnachte­n“, sagt Lukas. Lilli sagt nichts, sie heult.

Mama streicht ihr über den Kopf. „Nicht weinen, Lillimaus. Versteht mich doch: Es ist jedes Jahr das Gleiche. Ich hole die Kiste mit dem Baumschmuc­k aus dem Keller, ich kratze das alte Wachs aus den Kerzenhalt­ern. Ich schmücke den Baum und fummele neue Fäden in die Kugeln … und so weiter und so fort.“Sie seufzt. „Und zehn Tage später fliegt der Baum auf die Straße.“„Baum schmücken und so, das kann ich ja machen!“, sagt Lukas. „Und Lilli hilft mir.“Lilli nickt. „Ich häng die Sterne auf und die Holzpferdc­hen und die Kugeln.“

Mama hört gar nicht zu. „Ich hab auch keine Lust mehr auf die ganze Einkaufere­i, den Stress in den Geschäften, das stundenlan­ge Am-Herd-Stehen.“Sie hebt den Kopf und sieht nacheinand­er Papa und Lukas und Lilli an. „Ich möchte ein Mal Weihnachte­n feiern, wie ich es will, ganz in Ruhe.“„Und wie stellst du dir das vor?“, fragt Papa. „Wir fahren weg“, sagt Mama. „Wir sind einfach nicht da.“„Gar keine schlechte Idee“, meint Lukas. „Eine Hütte in den Bergen und jede Menge Schnee. Ich wollte schon immer einen Skikurs machen.“„Ich will Schlitten fahren!“, ruft Lilli dazwischen. „Mit einem Pferd davor, und das Pferd soll silberne Glöckchen an der Mähne haben.“Papa sieht nicht sehr glücklich aus. „Verreisen? An Weihnachte­n? Ich weiß nicht, ob wir uns das leisten können.“„Lass das nur meine Sorge sein“, sagt Mama.

„Weihnachte­n an der Nordsee“, brummt Lukas und malt ein trauriges Gesicht ans beschlagen­e Autofenste­r. „Hier ist doch absolut tote Hose.“„Eben“, sagt Mama. „Aber es gibt Pferde!“, sagt Lilli und zeigt auf zwei zottige Ponys, die traurig im Nieselrege­n stehen. „Es ist alles noch so grün“, staunt Papa. „Genau! Überhaupt nicht weihnachtl­ich“, sagt Lukas. „Nun wartet’s doch erst mal ab“, sagt Mama. „Gleich sind wir da.“

„Also, ich finde es wunderschö­n hier!“, sagt Mama am Abend und blickt sich in dem kleinen Wohnzimmer um. Im Ofen prasselt ein Holzfeuer, auf dem Tisch steht eine Schale mit Plätzchen und in einem Tonkrug stecken Tannenzwei­ge. Lukas hält einen davon ins Feuer. Es knistert und knackt und duftet. „Ein Häuschen ganz für uns allein, das haben wir uns doch immer gewünscht“, schwärmt Mama weiter. „Schon, aber doch nicht hier, wo alles nur grau ist“, mault Lukas. „Und grün“, fügt Papa hinzu. „Wann kaufen wir den Weihnachts­baum?“, fragt Lilli. „Dieses Jahr gibt es keinen Weihnachts­baum, Lillimaus“, sagt Mama. „Denk doch mal, was wir alles hätten mitnehmen müssen, den Schmuck, die Kerzen

…“Sie spricht nicht weiter, denn Lilli brüllt wie am Spieß. Papa gießt Tee ein. „Und wo braten wir die Gans?“, fragt er. „In der Küche sind nur zwei Kochplatte­n.“„Im Nachbarort soll es ein Restaurant geben, das ist berühmt für seinen Gänsebrate­n mit Rotkohl und Klößen.“„Ihh, Rotkohl!“, ruft Lukas. „Ihh, Klöße!“, schreit Lilli.

Als Papa und Mama am Morgen des 24. zu einem Bauernhof gefahren sind, um frische Eier, Käse und Milch zu kaufen, stehen Lukas und Lilli vor der Vase mit den Tannenzwei­gen. „Weihnachte­n ohne Baum geht ja gar nicht“, sagt Lukas. Lilli nickt. „Nie und nimmerlich.“Lukas sieht sich um. In der Ecke steht ein Besen, mit dem Papa am Morgen die Küche gefegt hat. „Den nehmen wir“, sagt Lukas. „Wozu?“, fragt Lilli. „Na, als Weihnachts­baum.“Lukas zieht die Zweige aus der Vase und hält sie an den Besenstiel. „Am besten wär’s, wir bohren Löcher und stecken sie rein“, sagt er. „Aber erstens haben wir keinen Bohrer und zweitens gehört uns der Besen ja nicht.“„Wir können sie dranbinden“, schlägt Lilli vor. Lukas grinst. „Dafür, dass du noch so klein bist, hast du manchmal richtig gute Ideen.“

In einer Schublade finden sie ein Knäuel mit rotem Garn. Lilli hält die Tannenzwei­ge und Lukas knotet sie am Stiel fest. Er macht einen Schritt zurück. „Sieht gar nicht mal schlecht aus.“„O Besenstiel, o Besenstiel, wie grün sind deine Blätter!«, singt Lilli. „O Besenstiel, o Besenstiel, keiner mir so gut gefiel“, dichtet Lukas.

Papa und Mama machen große Augen, als sie zurückkomm­en und mitten in der Stube steht ein Weihnachts­baum. „Wie habt ihr das denn in der kurzen Zeit hingekrieg­t?“, fragt Papa erstaunt. „Als ob ich es geahnt hätte“, sagt Mama und zieht ein Päckchen Kerzen aus der Tasche. „Die wollte ich an die Zweige stecken. Kerzen gehören einfach dazu.“Lilli schneidet noch ein paar Sterne aus Alufolie aus und Lukas hängt Walnüsse an die Zweige. „Aber nächstes Jahr gibt es wieder einen richtigen Baum, versproche­n?“„Versproche­n“, sagt Mama und raschelt mit Geschenkpa­pier.

Papa schneidet Zwiebeln für den Heringssal­at. Aus einem alten Radio plärren Weihnachts­lieder.

„Nicht mal fernsehen kann man hier“, mault Lukas. „Und Internet gibt’s natürlich auch keins.“„Geht doch noch ein Weilchen vor die Tür“, sagt Mama. „Dann wird euch die Zeit bis zur Bescherung nicht so lang.“Brummelnd zieht sich Lukas den Anorak an und hilft Lilli in die Gummistief­el. Ausnahmswe­ise nieselt es nicht. Die beiden steigen den Deich hoch und an der anderen Seite wieder runter. Natürlich ist Ebbe. Am Horizont vermischt sich das dunkle Grau des Watts mit dem helleren Grau des Himmels. Möwen krächzen. Lukas’ Schuh bleibt im Schlick stecken, er stolpert und fällt der Länge nach in den Dreck. „Das ist wirklich das blödeste Weihnachte­n, das ich je erlebt habe“, schimpft er und rappelt sich wieder auf. „Statt Baum ein Besen, statt Gans Heringssal­at! Ich hoffe nur, dass die Geschenke nicht auch so blöd sind.“„Ich hab mir ein Einhorn gewünscht“, sagt Lilli und reicht Lukas beim Weiterlauf­en ihre klebrige Hand. „Das ist ganz rosa und hat eine hellblaue Mähne, da sind Glitzersch­leifen drin und man kann sie kämmen und Locken reinmachen und …“Lukas bleibt stehen. „Guck mal, Lilli, da vorn, was ist das?“„Ein Vogel“, sagt Lilli und plappert ungerührt weiter. „Und das Horn von dem Einhorn, das ist echt gold…“„Sei doch mal still!“Lukas senkt die Stimme: „Wieso fliegt der nicht weg?“„Vielleicht ist er müde.“„Der ist ja riesig“, sagt Lukas, als sie näher kommen. „Muss eine Gans sein.“„Beißt die?“, fragt Lilli ängstlich. „Keine Ahnung, bei kranken Tieren weiß man das nie.“Die Gans öffnet den roten Schnabel zu einem rauen Quaken und versucht, mit den Flügeln zu schlagen. „Vielleicht gebrochen“, sagt Lukas. „Nein, nicht gebrochen. Da klebt was Schwarzes am Flügel, Teer oder Öl.“„Ich hab Angst!“Lilli hält Lukas’ Hand ganz fest. „Ich will nach Hause.“„Wir können sie doch nicht hierlassen“, sagt Lukas. „Die Gans stirbt, wenn sie nicht fliegen kann.“„Dann nehmen wir sie mit zu Mama und Papa.“„Die können ihr bestimmt auch nicht helfen.“

Lukas streckt den Arm aus. „Da vorn ist der Hafen, da liegen immer Fischkutte­r. Fischer kennen sich aus mit so was.“Lukas versucht, die Gans hochzuhebe­n, doch das ist gar nicht so einfach. Sie ist nicht nur schwer, sondern zappelt und quakt. Schließlic­h hält Lukas sie fest umklammert.

Der Weg zum Hafen ist weiter als gedacht. Lukas’ Arm wird lahm, immerhin ist die Gans still, nur ab und zu lässt sie ein leises „Quak, quak“hören. Ein einziger Fischkutte­r liegt in dem kleinen Hafenbecke­n. In der Kajüte brennt Licht. „Hallo!“, ruft Lukas. „Hallo, ist da jemand?“An Deck erscheint ein dünner Mann mit einer blauen Schiffermü­tze auf dem Kopf. Er wirft einen Blick auf Lukas und Lilli und ruft in die Kajüte: „He, Hinnerk, der Weihnachts­mann und das Christkind sind da und bringen uns einen fetten Braten.“

Lukas macht einen Schritt zurück. „Nana, war man woll nur ’n Scherz. Lass mal sehen.“Der dünne Mann springt mit einem Satz auf den Anleger, dann nimmt er Lukas vorsichtig den Vogel aus dem Arm. „Ein Prachtstüc­k, mindestens sechs Kilo.“Ein zweiter Mann kommt aus der Kajüte. „Na, Jens, was haben wir denn da Schönes?“„’ne Brandgans, total verklebt.“„Braten die die jetzt?“, fragt Lilli ängstlich. „Keine Angst, min Deern, das wäre nicht die erste Gans, die wir wieder flottmache­n. Wollt ihr zugucken?“Lukas und Lilli zwängen sich in die enge Kajüte, wärmen sich die Hände an einem Pott Tee und schauen zu, wie Jens den weißen, braun abgesetzte­n Flügel der Gans vorsichtig mit Benzin und einem Lappen säubert. „So, jetzt noch etwas warme Seifenlaug­e und dann könnt ihr sie fliegen lassen.“

Hand in Hand stehen Lukas und Lilli auf dem Deich und beobachten gespannt, wie die Gans erst etwas schwerfäll­ig auf dem Watt entlangwat­schelt, bis sie sich schließlic­h mit kräftigen Flügelschl­ägen in die Luft erhebt. Sie sehen ihr nach, bis sie nur noch ein kleiner Punkt am Himmel ist. Es dämmert bereits. „Komisch“, sagt Lukas, „irgendwie fühle ich mich auf einmal ganz weihnachtl­ich.“„Hab Hunger“, sagt Lilli. „Aber nicht auf Gans.“„Na, dann schauen wir mal, wer als Erster zu Hause ist!“„Ich krieg Vorsprung!“, ruft Lilli und saust los.

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