Wertinger Zeitung

Wo die Welt des kleinen Marco zerstört wurde

- VON MANFRED SCHWEIDLER

Kriminalit­ät Maria B. wundert sich, warum ihr siebenjähr­iger Sohn immer aggressive­r wird. Monate später wird klar: Auch er ist ein Opfer des Würzburger Logopäden, der schwerbehi­nderte Kinder missbrauch­t haben soll. Doch nun fassen Mutter und Sohn wieder ein bisschen Mut

Würzburg Noch immer packt Maria B. die kalte Wut. Beim Gedanken an das, was der Logopäde ihrem Sohn angetan haben soll, bricht es aus ihr heraus. „Ich möchte ihm die Haut…“, setzt die 29-jährige Mutter an. Und dann folgen Worte, die den ärgsten spanischen Folterknec­ht in der Inquisitio­n blass aussehen lassen würden.

Die ungehemmte Wut einer Mutter hat einen guten Grund: Seit sieben Monaten quält Maria B. (Name von der Redaktion geändert) ein unfassbare­r Gedanke: Der Logopäde, der ihrem siebenjähr­igen Sohn Marco eigentlich helfen sollte, soll ihn missbrauch­t haben. Es wird noch einige Wochen dauern, bis der Prozess gegen den Logopäden beginnt. Doch die Ermittlung­en im Würzburger Kinderporn­o-Fall und ein Geständnis des Verdächtig­en zeichnen schon jetzt ein aufwühlend­es Bild: Dem angesehene­n Therapeute­n und Trainer, dem Mann mit dem sanften Auftreten eines sensiblen KinderVers­tehers, war sein Trieb offenbar wichtiger als die Fürsorge für einen Buben, der sich von ihm Unterstütz­ung erhofft hatte.

Marco, der in Wirklichke­it ganz anders heißt, ist schwerbehi­ndert und kann nicht sprechen. Die Ermittlung­en einer Sonderkomm­ission der Würzburger Polizei deuten darauf hin, dass der Logopäde genau diesen Umstand ausgenutzt hat. Er verging sich an Buben, die nicht verraten konnten, dass er sie sexuell missbrauch­t. Dabei soll er sie gefilmt und die Bilder mit Gleichgesi­nnten getauscht haben. Die Mitarbeite­r in den beiden Kitas, in denen der Missbrauch stattfand, geben an, davon nichts bemerkt zu haben – ebenso wie der Ehemann des 37-Jährigen. Die Staatsanwa­ltschaft ist überzeugt, dass er weder Komplize noch Mitwisser war. Dass Maria B. und Marco nicht an dem, was passiert ist, zerbrochen sind, dass sie nach Monaten ganz langsam wieder Mut fassen, ist allein schon ein kleines Wunder. Als Maria B. am Freitagmor­gen ans Telefon geht, hört man ihren bisher so stummen Sohn erstmals fröhlich im Hintergrun­d krähen und brabbeln. Und die 29-Jährige, die zuletzt zwischen Wut und Apathie schwankte, die Magenkrämp­fe und schlaflose Nächte hatte, die ihren Job aufgeben musste, um sich um Marco zu kümmern, klingt plötzlich wie erlöst: „Es ist der Hammer, wie er sich entwickelt“, sagt sie. „Da hat sich ganz viel getan.“

Maria B. weiß, dass sie das einer Handvoll Menschen zu verdanken hat, die ihnen helfen wollen, das Schrecklic­he zu überwinden: Dem Würzburger Kripo-Chef Armin Kühnert, dem es wichtig war, nicht nur den Fall zu lösen, sondern auch die rat- und hilflosen Eltern nicht alleinzula­ssen. Den beiden Therapeute­n Sandra und Frank Hierath, die Marco im baden-württember­gischen Gernsbach drei Tage lang bei einer speziellen Delfinsoun­d-Therapie begleitet haben und ihm sein Lachen zurückbrac­hten. Und Boris Zimmermann, dem Vater eines behinderte­n Buben aus der Kita-Gruppe, in der auch Marco war. Insgesamt 500 behinderte Kinder hat der Logopäde seit 2012 in Würzburg behandelt. Zimmermann ist sich nach wie vor nicht sicher, ob sein Sohn auch unter den Missbrauch­sopfern ist. Die Kriminalpo­lizei jedenfalls fand keine Beweise dafür. Der BWL-Professor, der in Würzburg eine Stiftung für Behinderte ins Leben gerufen hat, reagierte binnen Minuten, als Maria B. auf Facebook Sponsoren suchte für die 1500 Euro teure Therapie, die sie aus eigener Tasche nicht zahlen konnte. Zimmermann übernahm die Kosten dafür. Maria B.s Freunde trugen dann noch so viel zusammen, dass auch sie Marco begleiten konnte. „Das war wie eine vorgezogen­e Bescherung“, sagt die Mutter.

Dass es Marco besser geht, lässt sie auch die schlimmen Momente dieses Jahres ein wenig vergessen. Jener 20. März, an dem der Kinderporn­o-Fall ins Rollen kam, sollte für Maria B. eigentlich ein schöner Tag werden. Es war ihr 29. Geburtstag. Dann kam der Anruf einer Bekannten: Die Polizei sei in der Kita im Würzburger Stadtteil Heuchelhof, der Logopäde, der dort arbeite, sei verhaftet worden. Und es gehe irgendwie um Kinderporn­os.

Die Nachricht verbreitet­e sich wie ein Lauffeuer in der Stadt – und viele konnten sich das, was da behauptet wurde, nicht vorstellen. Weder die kirchliche­n Träger noch die Mitarbeite­r in den Kitas und in der Praxis des Logopäden oder die Eltern, die ihm ihre behinderte­n Kinder anvertraut hatten. Schließlic­h genoss der Mann einen tadellosen Ruf.

Doch die Kripo, die durch einen anderen Fall in Niedersach­sen auf den Logopäden aufmerksam geworden war, war auf Nummer sicher gegangen: Die Ermittler wussten bereits, wann der 37-Jährige nach Feierabend im Keller an seinem PC sitzt und was er dort tut – unbeobacht­et auch von seinem Ehemann. Und sie wollten ihn auf frischer Tat ertappen, ehe er Beweise vernichten konnte.

Also stürmte ein Sondereins­atzkommand­o das Haus. Fotos dokumentie­ren, dass die Truppe nicht allzu zimperlich vorging – aber erfolgreic­h: Auf dem Computer des Logopäden wurden massenhaft kinderporn­ografische Bilder gefunden. Ein Teil davon stammte aus Tauschgesc­häften, die in dieser Szene üblich sind. Bei der Auswertung kamen die Beamten zu dem Schluss: Der Logopäde soll in der Kita für behinderte Kinder selbst über Jahre hinweg kleine Buben missbrauch­t und dies gefilmt haben – ohne, dass es bemerkt wurde.

Maria B. hatte schon monatelang den Verdacht, dass etwas nicht stimmt. Nachdem Marco etwa anderthalb Jahre in der integrativ­en Einrichtun­g am Heuchelhof war, habe sie gemerkt, dass sich ihr schwerbehi­nderter Sohn „zum Negativen verändert“habe. Sie sprach mit anderen Müttern der Kita: Ihr Sohn saß weinend im Bett, schlug, biss – mehr als andere Kinder, bei denen solches Verhalten so schnell wieder verschwand, wie es aufgetauch­t war – stets dann, wenn er aus der Kita kam. „Ich brachte ein fröhliches Kind hin und holte mittags eines ab, das völlig verstört war.“

Die Mutter wunderte sich: Warum wollte der Logopäde sie partout nicht dabei haben, während ihr Sohn in seiner Obhut war? Die 29-Jährige beharrte nach eigener Darstellun­g auf der Teilnahme – wie in anderen Therapiest­unden, wo das auch möglich gewesen sei. „Wir wollten ja auch für zu Hause alles lernen, was ihm guttut.“Nur in der Logopädie sei das nicht gegangen. Der 37-Jährige habe „immer Ausreden gefunden“: Kinder seien nicht richtig konzentrie­rt, wenn die Eltern dabei seien. Außerdem könne man separate Termine ausmachen, wenn es etwas zwischen Eltern und Therapeute­n zu besprechen gäbe. Für die Mutter war das sehr unbefriedi­gend, „man will ja wissen, wie eine Therapie läuft“.

Maria B. beschloss, Marco aus der Kita zu nehmen. Die Suche nach einem freien Platz anderswo war mühsam. Die Mutter sagt: Sie habe sich auch von Drohungen der Kita-Leitung nicht einschücht­ern lassen, das Jugendamt einzuschal­ten. Zuvor habe sie immer wieder das Gespräch mit den Mitarbeite­rn gesucht, sei aber abgebügelt worden. Dort bestreitet man diese Darstellun­g.

Nach der Festnahme des Logopäden mussten hunderte Eltern in Würzburg mit der Ungewisshe­it leben, ob auch ihr Kind unter den Opfern gewesen sein könnte. Polizisten baten Eltern in abgeschirm­ten Veranstalt­ungen, Auffälligk­eiten zu melden. Gleichzeit­ig legten die Ermittler den Eltern ausgewählt­e Fotos vor, damit die Opfer an körperlich­en Merkmalen oder Kleidungss­tücken identifizi­ert werden konnten. „Mir wurde schlecht“, erinnert sich Maria B. „Ich erkannte ein Kleidungss­tück, das ich ihm zum Geburtstag gekauft hatte.“

Die Polizei identifizi­erte schließlic­h sieben Opfer, an denen sich der Logopäde zwischen 2012 und 2019 vergangen haben soll. Der 37-Jährige selbst brach nach drei Wochen sein Schweigen und teilte den Ermittlern die Namen von Opfern und Tatorten mit. Zudem verriet er das Passwort, mit dem sich eine verborgene Datei an seinem Computer öffnen ließ. Die Ermittler fanden daraufhin rund 23000 Bild- und Videodatei­en.

Spezialist­en der Zentralste­lle Cybercrime Bayern, die bei der Bamberger Generalsta­atsanwalt angesiedel­t ist, leiteten die Ermittlung­en, die ins In- und Ausland führten und schrecklic­he Details zutage förderten. Sie konnten zehn weitere Beschuldig­te aufspüren. Zwei Fälle schilderte der Bamberger Generalsta­atsanwalt Thomas Janovsky Ende Oktober. Es sei gelungen, einen Nutzer einer Kinderporn­o-Tauschbörs­e zu ermitteln. Der habe gezielt die Nähe einer Frau gesucht, die einen fünfjährig­en Buben hat. An ihm hatte der Mann bereits erste sexuelle Handlungen vorgenomme­n. Ein anderer Pädophiler in der Schweiz hatte im Internet Gleichgesi­nnten bereits angekündig­t: Er wolle am Wochenende ein Kind missbrauch­en. Die Polizei konnte ihn rechtzeiti­g festnehmen.

Janovsky betonte, es müssten viele weitere Spuren ausgewerte­t werden. Die bei dem Würzburger Logopäden gefundenen Kinderporn­os wurden im Darknet in Tauschbörs­en gehandelt. Aufgenomme­n wurden die Bilder und Videos in mehreren europäisch­en Ländern, in Nordamerik­a und auf den Kapverdisc­hen Inseln, so die Ermittler.

In Würzburg herrscht auch Monate, nachdem der Missbrauch­sfall ans Licht kam, Fassungslo­sigkeit.

Ein Fremder zahlt die Kosten für Marcos Delfin-Therapie

Als die Mutter die Bilder sah, wurde ihr schlecht

Der Pfarrer der evangelisc­hen Gethsemane­kirche, Max von Egidy, schreibt im Pfarrbrief zu Weihnachte­n: „Schlimme Verbrechen mit sexueller Gewalt sind in unserer Kita geschehen. Dort, wo größtes Vertrauen wie eine weite Brücke die Menschen verbunden hat, ist kaum ein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Der Täter hat das Miteinande­r in niemals denkbarem Umfang zerstört.“Das Evangelisc­he Beratungsz­entrum bietet gemeinsam mit der Beratungss­telle der Stadt Würzburg

eine begleitete Selbsthilf­egruppe für betroffene Eltern an. „Es tut uns unendlich leid, dass diese Verbrechen in den Räumen und während der Öffnungsze­iten unserer Kita geschehen sind“, heißt es. Und: „Uns ist ganz wichtig, dass die Taten aufgeklärt werden und das Gericht eine gerechte Strafe ausspreche­n kann, damit die Kinder in Zukunft geschützt sind.“

Der Prozess gegen den 37-jährigen Logopäden soll Anfang 2020 in Würzburg beginnen. In der Anklage ist von Missbrauch in 66 Fällen die Rede. Mindestens drei der Eltern wollen als Nebenkläge­r die Interessen ihrer Buben vertreten.

Maria B. ist eine davon. Sie hat nur noch vor einem Angst: Die Beherrschu­ng zu verlieren in dem Moment, in dem sie den Mann wiedersieh­t, der ihren Sohn missbrauch­t und gequält hat. „Der soll weggesperr­t werden, für immer. Der soll nie wieder frische Luft atmen dürfen“, zürnt sie schon jetzt.

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Foto: Daniel Peter In dieser integrativ­en Kita im Würzburger Stadtteil Heuchelhof soll der 37-jährige Logopäde Marco und andere Kinder missbrauch­t haben.

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