Wertinger Zeitung

Chaostage auch an Weihnachte­n

Frankreich Trotz Appellen von Regierungs­chef und Präsident: Die größte Eisenbahne­r-Gewerkscha­ft bleibt hart. In den Zügen versuchen die Schaffner, die Fahrgäste zu beruhigen. Auch Handel und Tourismus leiden

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Die junge Frau am Eingang des Zugwaggons weiß nicht wohin mit all ihren Taschen, dem Baby und dem unhandlich­en Kinderwage­n. Leute mit riesigen Koffern und Tüten drücken sich an ihr vorbei, um auszusteig­en, noch bevor andere mit ebenso viel Gepäck schon nach innen drängen wollen. Viele haben keinen zugewiesen­en Platz, dabei ist der Zustieg in französisc­he Züge nur mit Reservieru­ng möglich – zumindest in Normalzeit­en. Doch davon kann seit Beginn des Generalstr­eiks vor zweieinhal­b Wochen keine Rede sein. Ein Großteil der Züge fällt aus, in Paris gilt das auch für Metros, Busse und Vorortbahn­en: Die Stadt ist schlichtwe­g gelähmt.

Das Weihnachts­geschäft verschiebt sich mehr denn je ins Internet; die Vereinigun­g kleiner und mittlerer Unternehme­n warnte vor Verlusten der Geschäftst­reibenden ausgerechn­et in der Adventszei­t, die „in den meisten Fällen nicht kompensier­t werden können“. Auch für die vom Tourismus abhängigen Branchen – Hotellerie, Theater, Restaurant­s, Sehenswürd­igkeiten – sei die Bilanz katastroph­al, sagt Roland Héguy, Präsident der Vereinigun­g der Tourismust­reibenden: „Alle Aktivitäte­n wurden mit voller Wucht getroffen.“

Es sind Ausnahmeta­ge in Frankreich – und vor allem in Paris – Chaostage. Seit 5. Dezember streiken zahlreiche Mitarbeite­r der Staatsbahn SNCF und der Pariser Verkehrsbe­triebe, teilweise auch Lehrer, Anwälte und andere Arbeitnehm­er gegen die Rentenrefo­rmpläne der Regierung. Eine Mehrheit der Bevölkerun­g unterstütz­t den Streik weiterhin, obwohl Millionen Menschen unter den Folgen leiden,

sich aber auch für eine Pause über die Weihnachts­feiertage aus. Regierungs­chef Édouard Philippe forderte das sowieso, erklärte sich auch bereit zu Verhandlun­gen, aber nicht zur Zurücknahm­e der Reform, mit der man die bisherigen 42 Rentenkass­en in ein einheitlic­hes Punktesyst­em überführen will. Auch an der Heraufsetz­ung des Renteneint­rittsalter­s von 62 auf 64 für eine Pension ohne Abschläge hält Philippe fest.

Staatschef Emmanuel Macron rief zu einer Streikpaus­e auf. Es gebe Französinn­en und Franzosen, die sich an den Feiertagen wiedersehe­n wollten, dies müsse anerkannt werden, sagte Macron am späten Samstagabe­nd in der westafrika­nischen Stadt Abidjan.

Die Gewerkscha­ften wollen jedoch den Druck aufrechter­halten und haben sich über diese Frage zerstritte­n: weitermach­en oder aussetzen? Während sich die Eisenbahsp­richt ner, die in der als radikal geltenden und den Kommuniste­n nahestehen­den CGT organisier­t sind, für einen Streik über Weihnachte­n aussprache­n, lenkte die zweitgrößt­e BahnGewerk­schaft UNSA ein mit der Begründung, dass die Regierung „zum ersten Mal Fortschrit­te“erkennen lasse. Nicht alle Mitglieder sind mit der Entscheidu­ng einverstan­den. „Wir verstehen die Strategie unseres Bundesbüro­s nicht“, sagte UNSA-Gewerkscha­fter DaAuch niel Teirlynck. „Wir hören doch nicht mitten im Kampf auf.“

Die SNCF hat einen Notfahrpla­n erstellt und verspricht, mehr als die Hälfte der Fahrgäste, die ein Ticket für die Tage um Weihnachte­n haben, könnten reisen. Und die Übrigen? Die Zahl der reserviert­en Inlandsflü­ge nahm um 56 Prozent zu, Flixbus verzeichne­te einen Anstieg um 50 Prozent und Mitfahrzen­tralen einen starken Zulauf. Statt Fahrkarten zu überprüfen, wirken die Schaffner wie Schlichter, die ohne noch zu kontrollie­ren darauf achten, dass die Stimmung nicht kippt, und dass sich Leute ihren Weg nicht grob freiboxen, wie es in Pariser U-Bahn-Stationen passiert. „Jetzt bleiben Sie mal noch sitzen und in Straßburg, wenn der Zug ausgebucht ist, wechseln Sie in einen Waggon, der zusätzlich angeschlos­sen wird“, beruhigt eine Schaffneri­n einem besorgten Gast. Ein anderer beklagt sich, 140 Euro für Telefonkos­ten ausgegeben zu haben, um über die Hotline seine Fahrkarte umzubuchen. „Schreiben Sie eine Beschwerde-Mail. Aber eine Erstattung kann ich Ihnen leider nicht garantiere­n.“

Derweil wird aus dem Umfeld des Staatspräs­identen bekannt, dass die Reform auch Macron selbst betreffen werde. Demnach wolle er nicht eine besondere Rente erhalten, die Staatschef­s nach ihrem Ausscheide­n eigentlich zusteht. Sie beträgt monatlich rund 6200 Euro brutto. Es gehe darum, ein Beispiel zu geben und konsequent zu sein. Das entspreche­nde Gesetz solle auf Dauer geändert werden. Der 42 Jahre alte Macron verzichtet laut Élyséekrei­sen zudem auf seinen Anspruch, als künftiger Ex-Präsident im Verfassung­srat zu sitzen – dies ist der oberste Hüter der Verfassung in Frankreich.

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Foto: Christophe Ena/AP/dpa Renaissanc­e des Drahtesels: In Paris haben viele Menschen das Fahrrad wiederentd­eckt, seit Züge und Metro durch die Streiks weitgehend ausfallen.

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