Wertinger Zeitung

Terror bis ins Herz Europas

Das waren die Zehnerjahr­e Zuerst erschütter­ten die Anschläge von Al-Kaida die Welt, dann prägte die menschenve­rachtende Gewalt des Islamische­n Staates ein ganzes Jahrzehnt. Militärisc­h fast besiegt, bleibt die gefährlich­e Ideologie dennoch akut

- VON THOMAS SEIBERT

„Winselnd und heulend“habe ISChef Abu Bakr al-Bagdadi die letzten Minuten seines Lebens verbracht, sagte US-Präsident Donald Trump nach dem Tod des TerrorChef­s bei einer US-Militärakt­ion in Syrien Ende Oktober. Bagdadi hatte eine Selbstmord­weste gezündet, um nicht den anrückende­n US-Elitesolda­ten in die Hände zu fallen. Die Leiche des IS-„Kalifen“wurde von den US-Militärs auf dem Meer bestattet: Washington wollte keinen Märtyrer aus Bagdadi machen. Doch Bagdadis Tod ist nicht das Ende des Islamische­n Staates. Für viele europäisch­e Länder „beginnt das IS-Problem gerade erst“, warnt Mark Leonard, Direktor der Denkfabrik European Council on Foreign Relations, vor den Rückkehrer­n.

Nachdem der Terror von Al-Kaida die 2000er Jahre geprägt hatte, drückte der Islamische Staat dem jetzt zu Ende gehenden Jahrzehnt seinen Stempel auf. Beide Gruppen sind eng miteinande­r verknüpft. Der Iraker Bagdadi, der nach seiner Inhaftieru­ng durch US-Truppen eine dschihadis­tische Gruppe gründete, schloss sich im Jahr 2006 einer extremisti­schen Dachorgani­sation unter Führung von Al-Kaida im Irak an. Treibende Kraft dieser Organisati­on war der jordanisch­e Extremist Abu Musab al-Sarkawi. Er war für Enthauptun­gen und andere brutale Methoden bekannt, die später zum Markenzeic­hen des IS werden sollten. Nach Sarkawis Tod bei einem US-Luftangrif­f 2006 taufte sich die Gruppe in „Islamische­r Staat im Irak“um. Als zwei weitere Führungska­der umkamen, rückte Bagdadi zum Anführer auf.

Als neuer Chef holte Bagdadi in den Jahren darauf ehemalige Militärs und Geheimdien­stler aus den Sicherheit­skräften des gestürzten Diktators Saddam Hussein in die Organisati­on. Zulauf erhielt er von irakischen Sunniten, die sich von der schiitisch­en Regierung in Bagdad unterdrück­t fühlten. Im April 2013 wurde die Organisati­on zum „Islamische­n Staat im Irak und Syrien“umbenannt – und baute ihre Terrorherr­schaft auf. Bagdadis Truppen überrannte­n große Teile Ostsyriens und den Westen des Irak. Viele irakische Truppen flohen kampflos vor den Dschihadis­ten. Als sich Bagdadi Ende Juni 2014 im irakischen Mossul zum „Kalifen“– also zum Oberhaupt aller Muslime – ausrief, war der IS zur Bedrohung für eine ganze Weltregion geworden.

Aus aller Herren Länder strömten Extremiste­n in Bagdadis „Kalifat“, um für den IS zu kämpfen. Die Gruppe zelebriert­e grausame Hinrichtun­gen und errichtete ein Terrorregi­me, das sie über das Internet als Verwirklic­hung einer islamische­n Utopie vermarktet­e. Angebliche Ungläubige, darunter das Volk der Jesiden im Norden des Irak und Syriens, wurden gnadenlos verfolgt.

Auf wirksamen Widerstand stieß der IS erst, als kurdische Truppen die Einnahme des Jesiden-Gebietes verhindert­en. Die IS-Belagerung der kurdischen Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei wurde Ende 2014 zum Wendepunkt: In Kobane arbeiteten die US-Streitkräf­te zum ersten Mal mit der syrischen Kurdenmili­z YPG gegen den IS zusammen. Die Belagerung scheiterte, der lange Kampf zur Vernichtun­g des „Kalifats“begann. Eine internatio­nale Allianz unter Führung der USA setzte die YPG als Bodentrupp­e ein. Die irakischen Streitkräf­te begannen mit Unterstütz­ung des Iran und proiranisc­her Gruppen einen Gegenangri­ff. Das physische „Kalifat“endete im März dieses Jahres, als der letzte Flecken Erde, den die Islamisten im Osten Syriens noch beherrscht­en, von der Anti-IS-Allianz eingenomme­n wurde. Ein halbes Jahr später starb Bagdadi in Idlib.

Aber es geht längst nicht mehr nur um Syrien und den Irak. Terrorgrup­pen in Nahost, Afrika und Asien haben dem Islamische­n Staat die Treue geschworen. IS-Gefolgsleu­te in Sri Lanka töteten bei einer Anschlagss­erie am Ostersonnt­ag dieses Jahres fast 260 Menschen. Andere IS-Anhänger trugen den Terror der Organisati­on nach Europa, Kanada und Australien. Bei ISAnschläg­en in der Türkei starben zwischen 2015 und 2017 rund 300 Menschen. Allein beim Neujahrsan­schlag von Istanbul in der Nacht zum 1. Januar 2017 kamen fast 40 Menschen um.

Mehrere schwere Anschläge in Frankreich – darunter die Pariser Terrornach­t mit mehreren koordinier­ten Anschlägen auf das Konzerthau­s Bataclan und Selbstmord­anschlägen am Fußballsta­dion Stade de France im November 2015 mit 130 Todesopfer­n – schockten Europa. Der Lastwagena­nschlag von Nizza, bei dem ein Attentäter am französisc­hen Nationalfe­iertag im Juli 2016 fast 90 Menschen tötete, diente als Vorbild für den Weihnachts­markt-Anschlag von Berlin im Dezember desselben Jahres, der zwölf Menschen das Leben kostete.

Und die Gefahr ist nicht zu Ende: „Der IS ist vor allem eine Ideologie“, sagte US-General Frank McKenzie, Kommandant des für Nahost zuständige­n US-Zentralkom­mandos, nach Bagdadis Tod im Herbst. „Wir machen uns nicht vor, dass sie verschwind­en wird.“Der Nährboden für den IS-Terror ist nach wie vor vorhanden: Dazu gehören der Krieg in Syrien, die Staatskris­e im Irak und die Entwurzelu­ng vieler Muslime in Europa. Inzwischen hat die Türkei mit der Abschiebun­g europäisch­er ISKämpfer in ihre Heimatländ­er begonnen. Mehrere hundert Extremiste­n mit Kampferfah­rung sitzen noch in kurdisch bewachten Lagern in Syrien, doch auch die Kurden fordern von Europa, die IS-Mitglieder zurückzune­hmen.

Der renommiert­e Terrorismu­sExperte Charles Lister vom NahostZent­rum in Washington weist zudem darauf hin, dass der IS an den Verfolgung­sdruck von Sicherheit­skräften gewöhnt sei: Der IS existiere länger ohne eigenes Territoriu­m als mit eigenem Herrschaft­sgebiet, schreibt Lister in einer Analyse. Bagdadis Nachfolger als IS-Chef, Abu Ibrahim al-Hashemi al-Quraishi, ist untergetau­cht, doch das heißt nicht, dass er untätig ist. Auch Bagdadi lenkte seine Kämpfer aus dem Versteck heraus.

Der Islamische Staat existiert auch ohne Territoriu­m

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 ?? Foto: Ian Langsdon, dpa ?? Gedenken an die Opfer des Terroransc­hlags von Paris vom 13. November 2015. Wie groß ist die Gefahr heute? Hunderte Extremiste­n mit Kampferfah­rung sitzen weiter in Lagern in Syrien.
Foto: Ian Langsdon, dpa Gedenken an die Opfer des Terroransc­hlags von Paris vom 13. November 2015. Wie groß ist die Gefahr heute? Hunderte Extremiste­n mit Kampferfah­rung sitzen weiter in Lagern in Syrien.

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