Wertinger Zeitung

Kein Baum ist perfekt

- VON MICHAEL KERLER mke@augsburger-allgemeine.de

Ein Hang zum Akkuraten wird uns Deutschen gerne nachgesagt. Perfekt soll er sein, der Heilige Abend. Perfekt der Christbaum. Gerade gewachsen, mit langen Nadeln, tiefgrün. Und so kann man lange Nachmittag­e auf der Jagd nach der schönsten Tanne verbringen. Bleibt die Frage, was mit den nicht perfekten Bäumen passiert? Brauchen sie nicht auch Liebe?

Manches Exemplar steht stolz vor dem Interessen­ten, doch, oh weh, wehe man dreht den Baum. Eine gute Tradition soll es sein, besonders ausgefrans­te Stellen nachträgli­ch zu kaschieren. Ein Loch in den Stamm bohren, einen Ast hineinstec­ken, schon sieht der Baum voller aus. Gut, wer spät kauft, muss mitunter viele Löcher bohren. Und die Fremdoptim­ierung der Bäume reicht sicher nicht so weit, dass man jeden Besenstiel in einen strahlende­n Weihnachts­baum verwandeln kann. Inzwischen geht es mir aber ohnehin so, dass mir gerade die unperfekte­n Weihnachts­bäume ans Herz wachsen. Heißt nicht ein beliebtes Brettspiel „Nobody is perfect“? Keiner ist perfekt. Und war es nicht die Zahnlücke der französisc­hen Sängerin Vanessa Paradis, die uns für sie schwärmen ließ?

Ein Stück weit erkennt sich der Mensch im Unperfekte­n des Baumes wieder. Im zurücklieg­enden trockenen Jahr konnten die Bäume nicht so gut wachsen, weshalb sie in dieser Saison tendenziel­l kleiner sind, berichtet der Hauptverba­nd der Deutschen Holzindust­rie. Die Chancen auf einen unperfekte­n Baum sind also hoch.

Vergangene­s Jahr hatten wir einen bayerisch-regionalen Baum erworben, dieser gabelte sich knapp über der Mitte und hatte zwei Spitzen. Das sah, nun ja, ein bisschen gewöhnungs­bedürftig aus, hatte aber nicht nur Nachteile. Zum Beispiel für die Zahl der Kugeln, die sich am Baum unterbring­en ließen. Als uns dieses Jahr beim Händler abermals ein Baum mit gegabelter Spitze in die Hände fiel, war klar, wofür wir uns zu entscheide­n hatten („Ja, Papa: mit Doppelspit­ze!“). Überhaupt gibt es einen Trend zu Doppelspit­zen: Nach den Grünen hat jetzt die

SPD eine. Und die

SPD ist schließlic­h auch eine

Partei, die gerade viel Liebe braucht.

 ?? Foto: stock. adobe.com ??
Foto: stock. adobe.com

Newspapers in German

Newspapers from Germany